Christian Geissler wäre in diesen Tagen 90 Jahre alt geworden

Klassenkämpfe, ja, die laufen heute anders

Christian Geissler

kamalatta

Neuausgabe 2018, Verbrecher Verlag

616 Seiten, gebunden, Preis: 36,- Euro

Er hieß „kamalatta“, der 550 Seiten umfassende Roman, den Christian Geissler 1988 veröffentlichte – der letzte dieser Art, den wir von diesem leider 2008 gestorbenen Schriftsteller lesen konnten. Danach schrieb er nur noch kurze Texte und Gedichte. Es ging darin um den politischen Befreiungskampf, um persönliche wie gesellschaftliche Befreiung, und vor allem der Teil über die RAF erregte großes Aufsehen: Geissler reflektierte hier die Anstrengungen der linken Intellektuellen in der alten Bundesrepublik, sich im antikapitalistischen Kampf nicht auseinanderdividieren zu lassen – ein verzweifelt anmutender Kraftakt, etwas Pathetisches, Hochfahrendes und in sich Zerrissenes. Geissler hatte in „kamalatta“ seine spezifische Autorsprache bis zur äußersten Konsequenz geführt: das spröde, monologische Sprechen in verschiedenen Stimmen, die Prosa als ein „durchflimmertes wirrgitter“. „kamalatta“ ist eine zentrale Metapher, ein Verweis ist angebracht: In seiner hervorragenden Ausgabe der Werke von Friedrich Hölderlin zitiert D.  E. Sattler einen Zeitgenossen „Wenn Hölderlin in seinem Turm unruhig wurde, pflegte ein Freund ihm griechisch vorzulesen‚ sodann aber schrie er mit krampfigem Lachen: das versteh ich nicht! das ist Kamalattasprache.“ Kalamatta ist der reale Ort, an dem der griechische Freiheitskampf gegen die Türken begonnen hat. Kamalatta: in gebrochener und silbenverdrehter Sprache verbietet sich Hölderlin die offene Rede von der Freiheit.

Geissler hält fieberhaft fest an dem, woran er in seinem bisherigen Lebenswerk gearbeitet hat: seinen Lebensnerv kann man nicht ändern. Der Text ist eine übersteigerte, überhöhte Koloratur, ein glühendes Alptraumbild, in dem die Hoffnungen verschwunden sind. Es ist ein Schreckensgemälde, eine apokalyptische Vision wie bei einem Hieronymus Bosch, aber auch ein Manierismus der Verzweiflung. Außer bei Christian Geissler ist in der neueren deutschen Literatur höchstens noch bei Peter Weiss diese charakteristische Verbindung von radikalen linken Positionen und avantgardistischen ästhetischen Formen zu finden. Geissler jedoch ist es vorbehalten, eine vorläufige Endform dafür zu finden. Sie liegt wie ein Fremdkörper in dieser Gegenwart, quer zu allen Strömungen. Wer es auf sich nimmt, so etwas heute zu lesen, dem gibt es zu denken.

henker

ist stein der funktioniert

die rede von hinrichtung

dumm die vermessenheit

der andren seite floskel

der feind

ist keine menschenrede

ist machtgerede

ist nicht von uns

revolutionäre menschen im aufbruch

sind weder richter noch henker

reden nicht aus rechtsordnung

sondern frei

Um seine Sprache, seine Technik der Montage besser zu verstehen, sei hier ein Textauszug vorgelegt: „proff ist nie gefunden worden. auch die weit hinterm stein wissen bis heute von ihm nichts. als ich seinen kopf, geschoren, kalt, aus sonnenwarmem schotter vorsichtig aufhob, ohne den ausgemagerten körper freilich im ganzen bewegen zu können, es lag geröll

über alles, selten hatte der fluss so viel wasser geführt, jetzt lag das bett trocken heiß, fand ich die stirn gespalten. ich war von der feinheit der schneidung tief gerührt. keine fremde hand, keine einwirkung von außen kann einen menschen so sicher treffen, so scharf auf das bestimmte bedacht, erpicht auf die endlich eindeutige bewegung. ich sah den symmetrischen griff der hingesunkenen hände. hier war nichts überrascht, nichts niedergestürzt, gefällt.

hier war die niederlage als die aufrichtung im stein, das bewegte herz in den starrungen seiner befreiten raserei, die zerreißung ins ganze. das hirn unterm pelzigen haar lag klaffend ins dunkel des nackens, wo uns die ängste hocken. auch ohne die ebenmäßigkeit

der vernichtung seines gesichts hätte ich proff erkannt an den höckrigen ausdickungen seiner mittleren fingergelenke. in kluger abstimmung ihrer kräfte hatten die hände, ohne im mindesten zu verziehen, den kopf auf die schneide des steins gerissen. ausgewogen der tod eines menschen eigenartig zerteilt. der stein stand still. ihn traf keine schuld. von nichts gerührt staubt er weiß. es war allein die entscheidung von proff gewesen.“

Wenn man den Roman heute liest, sind Personen, Gruppen und historische Ereignisse nicht mehr unbedingt zwingend dem zuzuordnen, was beim Erscheinen des Buches 1988 für alle klar schien, ersichtlich war. „kamalatta“ ist kein historischer Schlüsselroman, das war nicht die Absicht von Christian Geissler. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag gestaltete sich schwierig, der Verlag wollte das Werk in sein pluralistisches Programm integrieren, Chrsitian Geissler wollte „Klärungsarbeit an tiefgehenden Widersprüchen“ leisten. Er intervenierte heftig, als er merkte, dass die Formulierungen für den Klappentext und die Ankündigungen für Presse und Buchhandel lieber auf einen gesellschaftlichen Mainstream orientierten als auf „den Bruch mit dem Konsens, die Frage nach dem bewaffneten Widerstand sei überholt oder noch zu frisch“ das „romantische fragment“ hinzuweisen.

Ob dieser Prosatext überhaupt als ein solcher zu lesen oder doch eher als ein ungeheures Langgedicht zu verstehen ist, darf gerne strittig gesehen werden. Der Autor dieser Zeilen neigt zu der bewusst von Geissler gewählten Form, die freie Form für Assoziationen durch die strenge Komposition durch Montage zu bändigen.

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"Klassenkämpfe, ja, die laufen heute anders", UZ vom 21. Dezember 2018



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