Hans Bauer fordert Solidarität mit allen Opfern der Berufsverbote

Klassenjustiz im Osten

Der 50. Jahrestag des von Willy Brandt unterzeichneten „Radikalenerlasses“ ist in diesem Jahr für liberale und linke Politiker und Wissenschaftler Anlass, dieses Unrecht aufzuarbeiten. So hat zum Beispiel das Berliner Abgeordnetenhaus am 2. September 2021 einen Beschluss zu Folgen und Schicksalen sowie zur Rehabilitierung von Betroffenen gefasst. Spät, aber zu begrüßen.

Offiziell fanden Gesinnungsüberprüfungen mit Berufsverbot in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren ihren Abschluss; in Bayern etwas später. Mit der jetzigen Aufarbeitung wird der Eindruck erweckt, als könne damit dieses dunkle Kapitel staatlicher Diskriminierung und Repression bewältigt und abgeschlossen werden.
Weit gefehlt!

Abgesehen von anhaltenden Berufsverboten in Westdeutschland wurde diese Praxis im Zuge der staatlichen Einheit Deutschlands vervollkommnet und weit überboten. In Umfang und Auswirkungen. Von den fast vier Millionen erwerbstätigen DDR-Bürgerinnen und -Bürgern wurde 1990/91 etwa die Hälfte arbeitslos, darunter etwa eine Million Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes. Das betraf neben Führungskräften in Verwaltungen, Mitarbeitern staatlicher und gesellschaftlicher Einrichtungen, Angehörigen der Justiz-, Schutz- und Sicherheitsorgane besonders Lehrer, Hochschullehrer, Wissenschaftler, Mediziner und Künstler.

Wer nicht vorzeitig in Altersrente – natürlich gekürzte – gehen oder unterqualifizierte Tätigkeit ausüben wollte, konnte sich „großzügig“ erneut bewerben. Geprüft wurde auch hier wie nach dem Radikalenerlass von 1972 die Verfassungstreue, das heißt die Treue zum Grundgesetz (GG) der BRD. Auch für die Vergangenheit, obgleich die Bewerber der Verfassung der DDR verpflichtet waren. Die Vorgaben kamen vom damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Zweifel an der „Verfassungstreue“ bestanden danach immer, wenn ein Bewerber herausgehobene Positionen in Staat, Politik oder Wirtschaft der DDR bekleidet hatte. Und besonders wenn er für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) haupt- oder ehrenamtlich tätig war. Unterstellt wurde, einem Unrechtsstaat gedient sowie Menschenrechte verletzt zu haben.

Selbstauskünfte der Bewerber und entwürdigende Evaluierungen durch sogenannte Ehrenkommissionen führten zumeist zur Ablehnung der Bewerbungen. Gerichtsprozesse gegen dieses massenhafte Unrecht blieben fast immer erfolglos. Ebenso wie die Strafjustiz erfüllten auch Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsgerichte ihren politischen Auftrag. Den hatte der frühere Bundesjustizminister Kinkel den Richtern erteilt, indem er die „Delegitimierung“ der DDR auch durch die Justiz forderte.

Berufsverbote im Zusammenhang mit der Annektion der DDR gibt es bis heute. Den Stoff müssen die Archive des MfS liefern. Je nach politischem Bedarf. Aufgrund von „MfS-Enthüllungen“ treten Bürgerinnen und Bürger zu Wahlen nicht an beziehungsweise von Ämtern zurück, sie werden für Leitungsfunktionen in Staat und Wirtschaft ausgeschlossen oder sie müssen nach verunglimpfenden Veröffentlichungen in den gleichgeschalteten Medien ihre Tätigkeiten aufgeben.
Tausende Berufsverbote gegen DDR-Bürger sind auf diese Weise juristisch und faktisch mit der Annektionspolitik verbunden. Sie verletzen Artikel 3 des GG und Internationale Menschenrechte wie das Diskriminierungsverbot.

Die Zahl dieser Berufsverbote wird wohlweislich verschwiegen. Ja, sie werden als solche überhaupt nicht benannt. Auch nur selten von links. Dabei widerspiegeln gerade die Berufsverbote seit 1990 antikommunistische Kontinuität in der Stigmatisierung und Diskriminierung progressiver, vor allem linker Kräfte. Unser Kampf gegen die Berufsverbote – die Entlarvung ihres Charakters und die Forderung nach ihrer sofortigen Beendigung – muss noch stärker Teil des antiimperialistischen Kampfes werden. Das gebietet auch die Klassensolidarität mit den Betroffenen.

Unser Autor ist Vorsitzender der Gesellschaft für Rechtliche und Humanitäre Unterstützung (GRH).

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"Klassenjustiz im Osten", UZ vom 28. Januar 2022



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