Das Grundgesetz krisenfest machen, lautete der Antrag des Hamburger Senators Till Steffen (Bündnis 90 / Die Grünen) auf der Herbstkonferenz der Justizminister, die vor wenigen Tagen in Berlin zusammen- kam. Die Beispiele Ungarn und Polen zeigen, so Steffen, wie einfach Verfassungen durch neue politische Mehrheiten ihres rechtsstaatlichen Charakters beraubt werden können. Davor müsse das Grundgesetz geschützt werden, „bevor es zu spät ist“. Es sei Aufgabe des Bundesjustizministeriums, „Schwachstellen“ aufzuspüren. Die Idee stieß auf Ablehnung: „Kein Handlungsbedarf“, stellte nüchtern Hessens Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) fest.
So kurzfristig wie das Thema auf die Agenda kam, verschwand es auch wieder. In einem hat aber Steffen Recht: Zahlreiche Änderungen zeigen, wie wandelbar das Grundgesetz ist. 63 Mal legte der Gesetzgeber seit 1949 Hand an. Keine einzige Verfassungsnovelle hatte den Ausbau oder auch nur die Stabilisierung demokratischer oder sozialer Rechte zum Inhalt. Im Gegenteil: Sämtliche Änderungen spiegeln die reaktionären Entwicklungsetappen der Bundesrepublik Deutschland wider: von Remilitarisierung und NATO-Beitritt (1954 – 1956), über Notstandsgesetze (1968), DDR-Annexion und Zerschlagung der Staatsbetriebe (1990 – 1991), Auflösung des Asylgrundrechts (1993), europarechtliche Anpassungen (1992/2009) bis zum Großen Lauschangriff (1998) und der Vereinheitlichung der Hartz-IV-Anwendungspraxis (2010).
Abbau demokratischer Rechte, Destruktion sozialer Standards und Militarisierung – das war der Geist der Verfassungsreformen. Die 2002 neu geschaffene – und bekanntermaßen ineffektiv gebliebene – Staatszielbestimmung des Umweltschutzes (Artikel 20a GG) kann ihrerseits nicht darüber hinwegtäuschen, dass soziale Grundrechte für das Grundgesetz ein Fremdwort sind. Auch die jüngste verfassungsgerichtliche Entscheidung zu Hartz IV, die sanktionsbedingte Kürzungen des Existenzminimums um 30 Prozent für unbedenklich hält, fügt sich hierin nahtlos ein. Noch vor neun Jahren entschied das gleiche Gericht: Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist unverfügbar (BVerfGE 125, 175).
Der Klassengegensatz verläuft durch das Recht. Die 1977 aufgestellte These von Wolfgang Abendroth, das Verfassungsrecht sei ein Indikator des „jeweiligen Klassen-Waffenstillstands“ hat einiges für sich und greift dennoch zu kurz. Die grundgesetzliche Demarkationslinie zwischen den Interessen der herrschenden Klasse und der arbeitenden Bevölkerung hat sich neben dem stetigen Rückbau demokratischer Rechte immer weiter zu Lasten der sozial Schwachen verschoben. Die Bourgeoisie diktiert die Bedingungen des „Waffenstillstands“ und hat gegenwärtig auch kein Interesse daran, die Stellschrauben der Verfassungsänderung nachzujustieren.
Die Betriebsanleitung zum Umbau des Grundgesetzes ist bekannt, gemäß Artikel 79 GG unterliegen alle Grundgesetznormen (außer den Artikeln 1 und 20 GG) der freien legislativen Gestaltung. Eine Änderung erfordert ein konkretes Bundesgesetz, das sowohl im Bundestag wie im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit finden muss. Diese qualifizierte Mehrheit stellt die größte Hürde jeder geplanten Verfassungsänderung dar. Für die Artikel 1 GG (Menschenwürde) und Artikel 20 GG (Prinzip des demokratischen und sozialen Rechtsstaates) gilt die „Ewigkeitsklausel“ (Artikel 79 Absatz 3 GG) – solange das Grundgesetz existiert, ist jede Änderung ausgeschlossen.
Daneben kennt das Grundgesetz den präventiven Bestandsschutz. Das Verbot verfassungsfeindlicher Organisationen (Artikel 21 GG), das 1956 zur Ausschaltung der KPD eingesetzt wurde, und den von Verfassungsjuristen als „Angstklausel“ bezeichneten Artikel 18 GG: Im Krisenfall verwirken die Gegner der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ ihre Freiheitsrechte. Auch das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis verlieren sie. Die Verwirkung von Grundrechten zählt zum Kernbestand der „wehrhaften Demokratie“ (1 BvR 553/64). Sie erinnert in fataler Weise an die Vogelfreiheit des Mittelalters. Durch die Reichsacht wurde zum Beispiel Martin Luther 1521 für rechtlos erklärt, da er „so ganz verhärtet und verkehrt in seinen offenkundigen ketzerischen Auffassungen verharret“ habe. Der Repressionsapparat mit der Fülle schneidiger Instrumente im Polizeirecht, Presserecht, Verwaltungsrecht und Vereinsrecht, den Nachrichtendiensten und dem politischen Strafrecht, leistet sein Übriges.