Der russische Präsident Wladimir Putin hat eine bemerkenswerte Sensibilität für historische Momente, so auch bei seiner Rede aus Anlass des Beitritts der Volksrepubliken des Donbass und der Oblaste Cherson und Saporoschje zur Russischen Föderation. Die mehr als deutlich ausgegangenen Referenden hatten den für unvoreingenommene Beobachter fraglos vorhandenen Willen der überwältigenden Mehrheit der dortigen Bevölkerung deutlich werden lassen. Aber die Bedeutung des Tages ging, wie auch bei Putins Rede deutlich wurde, weit über diesen unmittelbaren Anlass hinaus.
Putin begann mit der gemeinsamen russischen Geschichte und dem alten Kampf um Noworossija seit Katharina der Großen. Er zog eine Linie von da an über die aufopferungsvollen Kämpfe während des Großen Vaterländischen Krieges bis hin zu den ermordeten Verteidigern der russischen Sprache, Kultur und Tradition wie den Verbrannten im Gewerkschaftshaus von Odessa. Und das Plenum ehrte „die Helden des großen Russland“, die im Laufe der militärischen Spezialoperation gefallen sind, mit einer Schweigeminute. In dieser gemeinsamen Geschichte liegt nach Putins Ansicht die Legitimation und die Kraft, die diese Beitritte möglich gemacht haben: „Es gibt nichts Stärkeres als den Willen von Millionen von Menschen, die sich aufgrund ihrer Kultur, Sprache, Traditionen als Teil Russlands verstehen, deren Vorfahren jahrhundertelang in einem Staat nebeneinander gelebt haben.“ Wie schon zuvor verurteilte der russische Präsident „die letzten Führer der Sowjetunion“, welche beschlossen hatten, die Sowjetunion „zerfallen zu lassen“, ohne die Bürger zu fragen. Aber man könne „die Vergangenheit nicht zurückholen“. Russland brauche es heute auch nicht.
Putins Vision ist nicht die Wiederherstellung der Sowjetunion, sondern die eines wiedererstarkten, unabhängigen Russland. Der russische Präsident ist kein Linker, sondern ein politisch Konservativer, wie er mit seiner Bezugnahme auf den russischen Philosophen Iwan Iljin deutlich machte – aber ein Konservativer, der es durchaus ernst meint mit der Verteidigung der Interessen seines Landes. Und der begriffen hat, dass russische Interessen langfristig nur zu sichern sind in einer Gemeinschaft von Völkern, in der unilaterale Herrschaftsambitionen, die Unterwerfung und die Ausbeutung einer Nation durch eine andere, kein erstrebenswertes Ziel ist.
Man rufe „das Kiewer Regime auf, sofort das Feuer und alle Kampfhandlungen einzustellen, mit dem Krieg aufzuhören, den es 2014 entfesselt hat, und an den Verhandlungstisch zurückzukehren“. Man sei dazu bereit. Aber „die Entscheidung des Volkes in Donezk, Lugansk, Saporoschje und Cherson“ stehe „nicht mehr zur Diskussion“. Man werde „unser Land mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen“ und man werde „alles dafür tun, um die Sicherheit unserer Mitbürger zu garantieren“. Das schließt den Übergang von der derzeitigen militärischen Spezialoperation zu einem großen Krieg natürlich ein. Darin läge, so Putin, „die große Befreiungsmission unseres Volkes“. Die US-„Übernahme“ der Ukraine durch den Maidan-Putsch 2014 ist dem Land nicht gut bekommen – zuerst der Verlust der Krim, dann der Donbass-Republiken und nun auch noch der von Saporoschje und Cherson. Da der Westen Verhandlungen ausschließt, braucht es nicht sehr viel Fantasie, um sich die nächsten Schritte vorzustellen. Ohne Odessa und die Verbindung nach Transnistrien dürfte auch die öffentliche Meinung in Russland keine Vereinbarung mit Washington und dessen Kiewer Marionetten akzeptieren. Nicht nur Putin sieht sich nun offiziell im Krieg und auf einer großen russischen „Befreiungsmission“. Die Ukraine würde damit zum Binnenstaat und verlöre 80 bis 90 Prozent ihres Industriepotenzials.
Die blutige Geschichte des Wertewestens
„Ich will Ihnen sagen, wofür unser Volk kämpft, was das für ein Feind ist, der uns gegenübersteht, der die Welt in neue Krisen und Kriege stürzt, um von dieser Tragödie zu profitieren“, überschreibt Putin seine rückhaltlose Generalabrechnung mit dem angloamerikanischen Expansionismus und der unilateralen Weltherrschaft nach dem Untergang der Sowjetunion. „Dieser Westen ist bereit, über alles zu gehen, um das neokoloniale System aufrechtzuerhalten, das ihm erlaubt, zu parasitieren, die Welt durch die Macht des Dollars und des technologischen Diktats de facto auszuplündern, von der Menschheit regelrecht Tribut einzutreiben, Nutznießer des von ihm nicht verdienten Wohlstands zu sein und eine hegemoniale Rente zu beziehen.“ Und weiter: „Daraus resultiert ihre Aggression gegenüber souveränen Staaten, traditionellen Werten und einzigartigen Kulturen. Daraus resultieren ihre Versuche, internationale Integrationsprozesse, neue Weltwährungen und technologische Wachstumszentren zu untergraben, die nicht unter ihrer Kontrolle stehen. Es kommt ihnen kritisch darauf an, dass alle Staaten ihre eigene Souveränität an die USA abgeben.“
In der Tat, je mehr sich die US-Dominanz auf reine Machtprojektion stützt und umso weniger Washington auf die sozialökonomische Integrationsfähigkeit seiner eigenen Ökonomie setzen kann, umso stärker bildete sich dieser repressive, auf Unterwerfung gerichtete Zug in der US-Herrschaftsausübung heraus. Für große Teile des Globalen Südens galt das schon immer, aber nun sind auch die engen Vasallen in Europa mit der Forderung nach bedingungsloser Unterordnung konfrontiert – auch wenn nationale Interessen massiv betroffen sind.
„Regierungsspitzen einiger Länder machen das auch freiwillig und werden freiwillig zu Vasallen“, so Putin mit Blick auf die Europäer, „andere lassen sich kaufen oder einschüchtern. Wenn es nicht klappt, werden ganze Staaten zerstört. Daraus folgen humanitäre Katastrophen, Leid und Ruin, Millionen zerstörter Biografien, Opfer, terroristische Enklaven, Gebiete sozialen Elends, Protektorate, Kolonien und Halbkolonien. Es ist ihnen egal. Hauptsache, man schlägt daraus Profit.“
Dem Wertewesten hielt Putin dessen so gern verdrängtes Sünderregister vor. Er habe „mit seiner Kolonialpolitik noch im Mittelalter begonnen (…) Dann folgten der weltweite Sklavenhandel, der Völkermord an Indianerstämmen in Amerika, Ausplünderung von Indien und Afrika, Kriege von Frankreich und England gegen China, die dazu führten, dass China seine Häfen für den Opiumhandel öffnete. Sie waren es, die ganze Völker von Drogen abhängig machten, ganze ethnische Gruppen gezielt tilgten, um in den Besitz von Land und Ressourcen zu kommen, sowie Menschen regelrecht wie Tiere jagten. Das alles ist der eigentlichen menschlichen Natur, der Wahrheit, dem Geist der Freiheit und der Gerechtigkeit zuwider.“ Eigentlich überflüssig zu bemerken, dass Putins Aufzählung nur einen kleinen Ausschnitt der europäisch-nordamerikanischen Verbrechen darstellt. Die europäisch-nordamerikanische Expansion ist ein in der Menschheitsgeschichte einmaliges Phänomen, welches an Opferzahl und Zerstörungsdimension nichts Vergleichbares findet. Putin demontiert hier energisch die verlogene westliche Zivilisations- und Menschenrechtspose.
Putin hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass es die USA waren, die als einziger Staat zweimal Atomwaffen eingesetzt und „im Zweiten Weltkrieg ohne jedweden militärischen Zwang Dresden, Hamburg, Köln und viele andere deutsche Städte dem Erdboden gleichgemacht“ haben. Viele japanische ebenso, wäre zu ergänzen: Allein beim (konventionellen) Brandbombenangriff auf Tokio am 9. und 10. März 1945 kamen über 100.000 Menschen in den Flammen um. Von den furchtbaren Bombardements, die Korea und Vietnam in die Steinzeit befördern sollten und denen Millionen Menschen zum Opfer fielen, erst gar nicht zu reden.
Der russische Überlebenskampf
„Nach dem Zerfall der Sowjetunion beschloss der Westen“, so Putin, „dass die Welt und wir alle uns mit seinem Diktat für immer abfinden müssen. Damals, 1991, rechnete der Westen damit, dass Russland sich von diesen Erschütterungen nicht mehr erholen und von allein zerfallen würde. Das wäre beinahe geschehen. Wir erinnern uns immer noch an die 90er Jahre, die schreckliche Zeit des Hungers, der Kälte und der Hoffnungslosigkeit. Aber Russland hat überlebt, Russland ist auferstanden, stärker geworden und hat erneut einen gebührenden Platz auf der Weltbühne eingenommen.“
„Die Vereinbarungen über strategische Sicherheit werden in den Mülleimer geworfen“, bemerkt der russische Präsident mit Blick auf die NATO-Osterweiterung sowie die Kündigung des ABM- und INF-Vertrags. „Die auf höchster politischer Ebene erreichten Absprachen werden zu Fantastereien erklärt. Handfeste Versprechen, die NATO sich nicht gen Osten erweitern zu lassen (…), erwiesen sich als schmutziger Betrug. Die Raketenabwehr- sowie Mittel- und Kurzstreckenraketen-Verträge wurden einseitig und unter erfundenen Vorwänden aufgekündigt.“
„Der Westen sucht inzwischen immer wieder nach neuen Chancen, Russland einen Schlag zu versetzen, Russland zu schwächen und zu zerstückeln“, macht Putin das strategische Interesse deutlich. „Man hat dort schon immer davon geträumt, dass unser Land zerfällt, dass unsere Völker gegeneinander aufgehetzt und somit zur Armut und zum Aussterben verdammt werden. Sie können sich nicht zur Ruhe setzen, solange es auf der Welt so ein großes, immenses Land mit so vielen Naturressourcen und so einem Volk gibt – einem Volk, das nie unter fremdem Diktat leben konnte und diesem nie folgen wird.“
Beginn und Ende der Unipolarität
Die, man kann sagen, sehr selbstbewusste Rede des russischen Präsidenten hat einen realen machtpolitischen und geoökonomischen Hintergrund – und dieser liegt in den Veränderungen der letzten 30 Jahre. Der US-amerikanische Unilateralismus begann mit der Ruinierung und dem Zerfall der Sowjetunion. Im Freudentaumel des Sieges und der nun möglichen Globalisierung, genauer der kapitalistischen Durchdringung des Ostens und der globalen Machtergreifung des angloamerikanischen Finanzkapitals, entstanden die Fantasien von der „Friedensdividende“ und vom „globalen Weltdorf“. Man hätte kaum mehr neben der Wahrheit liegen können.
Der Zusammensturz der drei Türme am 11. September 2001 gab das Startsignal zur Eroberung des Nahen und Mittleren Ostens. Hunderttausende mussten für den Griff Washingtons nach den wichtigsten Ressourcen des Globus ihr Leben lassen. Der US-Hegemon kümmerte sich nicht mehr um UNO und Völkerrecht. Wie Putin anmerkte, ging es um Geostrategie, um die Verewigung der angloamerikanischen Machtposition und einen möglichst großen Anteil an der globalen Mehrwertproduktion. Das US-Imperium wollte sich in eine unangreifbare Position versetzen.
Doch an der Wende zum neuen Jahrtausend geriet der neoliberal entfesselte Kapitalismus in seine erste große Systemkrise. Zwei weitere sollten ab 2007 und ab 2019 folgen und konnten nur mit ungeheuren Summen frisch gedruckten Geldes überlebt werden. In seinen inneren Widersprüchen gefangen, war das Imperium längst nicht mehr unangreifbar. Sowohl ökonomisch als auch militärisch waren ernsthafte Konkurrenten entstanden, die die USA nicht mehr zu kontrollieren in der Lage waren.
Auf dem St. Petersburg International Economic Forum (SPIEF) im vergangenen Juni hatte Putin das Ende des US-amerikanischen Unilateralismus verkündet. Und mit der Sprengung der Nord Stream-Pipelines hat das Ende der US-Unipolarität seinen ebenso symbolhaften Ausdruck gefunden wie seinen Anfang mit dem Einsturz der New Yorker Türme. Das US-Imperium hat seinen Anspruch, als ideeller Gesamtimperialist zu gelten, abgeschrieben. Die Vasallentreue wird nunmehr nicht mehr mit kleinen Gefälligkeiten belohnt, sondern schlicht abgepresst. Das Imperium und seine Kiewer Marionetten sind längst zu offenem Terror gegen missliebige Personen und zivile Infrastruktur übergegangen – ein Umstand, der auf ihre ehemaligen „Partner“ im Globalen Süden einen ziemlich abschreckenden Eindruck macht. So gelang es US-Präsident Joseph Biden nicht, die Saudis zur Erhöhung der Förderquote zu bewegen. Im Gegenteil: Im Einvernehmen mit Putin beschloss das von den Saudis dominierte Ölkartell OPEC+ eine Reduktion der täglichen Förderleistung um zwei Millionen Barrel. Eine schallende Ohrfeige für Biden.
Die russische Diplomatie war in den letzten Jahren ungemein erfolgreich. Nahezu der gesamte Globale Süden hat sich den US-Sanktionsbefehlen gegen Russland verweigert, nicht wenige trotz massiven Drucks aus Washington. Daran hat das Engagement Russlands in Zusammenschlüssen wie BRICS und der Shanghai Cooperation Organisation einen großen Anteil. „Und wir sind stolz“, konnte Putin – diesmal mit Blick auf den Internationalismus der Sowjetunion – bemerken, „dass im 20. Jahrhundert gerade unser Land sich an die Spitze der antikolonialen Bewegung gesetzt hat, die vielen Völkern der Welt Möglichkeiten für die Entfaltung, für den Abbau der Armut und Ungleichheit, für die Bekämpfung von Hunger und Krankheiten eröffnete.“ Es ist bemerkenswert, dass der ansonsten durchaus kommunismuskritische Putin die Zusammenarbeit Russlands mit dem Globalen Süden in dieser Traditionslinie sieht.
„Hinter uns steht die Wahrheit, hinter uns steht Russland!“, schloss Putin seine Rede. Nicht nur Russland, möchte man ergänzen, sondern der weit überwiegende Teil der Menschheit, der den Befehlen des Kollektiven Westens sich zu beugen nicht bereit ist.