Wir dokumentieren die Rede von Martin Gross, Landesbezirksleiter von ver.di Baden-Württemberg, gehalten auf dem Ostermarsch in Freiburg am 17. April in voller Länge. Für bessere Lesbarkeit haben wir die Rede bearbeitet.
Liebe Freundinnen und Freude,
der Präsident des Reservistenverbands, Patrick Sensburg, hält für die Landesverteidigung eine Zahl von 1 Million Reservisten für nötig. Weil? Wir bräuchten, so Sensburg, ein Massen-Heer, um in einem möglichen Krieg zu bestehen. Gemäß den NATO-Berechnungen könnten an der Ostflanke 5.000 Soldaten täglich sterben. „Ich hätte als Soldat in der aktiven Truppe ein schlechtes Gefühl, wenn keine Reservisten in der Nähe wären“, sagt Sensburg.
Und ich habe ein unerträgliches Gefühl, wenn täglich über 5.000 potentielle tote junge Menschen geredet wird, als gehe es um ein paar Überstunden mehr für die Truppe.
Dazu passt, dass die Fraktionsvorsitzende der Grünen im bayerischen Landtag, Katharina Schulze, Frau unseres Landesfinanzministers, einen verpflichtenden Freiheitsdienst für junge Menschen fordert. Um das hässliche Wort „Wehrpflicht“ zu vermeiden, wird ein Narrativ bemüht, das wir bisher nur von den reaktionärsten Republikanern in den USA kannten.
Liebe Freundinnen und Freunde,
zur DNA der Gewerkschaften und auch zu meiner persönlichen DNA gehört ein pazifistischer Kompass. Wenn am Himmel keine Wolke zu sehen ist, der Sonnenstand klar erkennbar ist, dann kann der Kompass auch mal in der Ecke liegen. Im Jahr 2025 verdüstern dunkle Wolken den ganzen Himmel, von West bis Ost, von Nord bis Süd. Die Orientierung wird immer schwieriger.
Liebe Freundinnen und Freunde,
in so einer dunklen Zeit ist das Dümmste, was man machen kann, seinen Kompass zu entsorgen. Jetzt müssen wir ihn rausholen. Wir dürfen das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Und unser Ziel ist eine Welt ohne Waffen und ohne Kriege.
Wir gehen heute hier in Freiburg und am Osterwochenende in vielen großen und kleinen Städten gemeinsam auf die Straße, um zu zeigen, dass es nicht nur eine Interpretation des derzeitigen Weltgeschehens gibt.
Und vor allem gibt es nicht nur eine angeblich alternativlose Antwort auf Putin und jetzt auf Trump. Zur bedingungslosen Aufrüstung, die die gesamte angebliche demokratische Mitte gerade fordert, gibt es eine vernünftige Alternative: Stopp. Erst denken, dann handeln!
Liebe Freundinnen und Freunde,
der Bundestag und der Bundesrat haben es jetzt beschlossen: Eine Flatrate für die deutsche Aufrüstung. Whatever it takes.
Ich habe drei Kinder und inzwischen sechs Enkel. Mein größter Wunsch ist, dass sie ihr Leben auf einem lebenswerten Planeten führen dürfen. Für sie wünsche ich mir seit Jahren, dass ein alter Politiker zum Kampf gegen die Klimakatastrophe sagt: Whatever it takes.
Wir haben nicht vergessen, dass die Schuldenbremse heilig war, solange es um Bildung, Gesundheit, Pflege, Wohnen, Armut, Klima, Brücken, Bahn und ÖPNV ging. Das war alles nicht wichtig genug. Aber für hunderte Milliarden für Waffen springen sie über ihren ideologischen neoliberalen Schatten.
Da schäme ich mich für unsere Politik.
Fast schlimmer als die für alternativlos erklärte Aufrüstung finde ich die von niemandem hinterfragte Dimension. Dass die europäischen NATO-Staaten schon jetzt deutlich mehr für Rüstung ausgeben als Putins Russland, spielt für sie keine Rolle.
Dass die 100 Milliarden aus dem ersten „Sondervermögen“ noch gar nicht ausgegeben sind? Egal. Dass unsere aktuellen Waffen angeblich alle nichts taugen, aber für die Ukraine im Kampf gegen Putin überlebensnotwendig sein sollen? Widersprüche, die niemand hinterfragt.
Liebe Freundinnen und Freunde,
ich war in den 1980er Jahren auf der Straße gegen Aufrüstung, als die Ostermärsche ihre Hochzeit hatten. Wir haben damals gemeinsam gegen die atomare Aufrüstung demonstriert. Viele von euch waren dabei.
Das Argument der Politik, der Falken von damals, für den atomaren Schutzschirm war: Wir brauchen diese schrecklichen Waffen, damit wir sie nie einsetzen müssen.
Wir in der Friedensbewegung fanden und finden diese Logik falsch und gefährlich. Das Ziel der Logik war aber immerhin, einen Atom-Krieg zu verhindern.
Jetzt findet, nicht heimlich, still und leise, sondern ganz offen eine neue Diskussion statt. Wir brauchen sogenannte taktische Atomwaffen. Aber nicht zur Abschreckung, sondern um sie im Kriegsfall einsetzen zu können.
Das, liebe Freundinnen und Freunde, ist eine derartig dramatische Diskursverschiebung, dass es einem die Sprache verschlägt. Hat die Menschheit wirklich gar nichts aus Hiroshima und Nagasaki gelernt? Atomwaffen sind das größte Übel auf dieser Welt. Sie gehören verschrottet, überall.
Liebe Freundinnen und Freunde,
lassen wir uns nicht täuschen. Eine Flatrate fürs Militär gibt es nicht für umsonst. Das Geld fällt nicht vom Himmel, es muss über Verschuldung aufgenommen werden. Die Zinsen für das Billionen-Euro-Paket, mindestens 50 Milliarden Euro pro Jahr, müssen dann aus dem Bundeshaushalt rausgeschwitzt werden.
Die Folge: Kein Spardruck bei Waffen und Infrastruktur.
Immenser Sparzwang bei allem Sozialen: Gesundheit, Pflege, Rente, Bürgergeld, Familienhilfen und, und, und. Bei allem wird gekürzt werden müssen. Und da wird es auf Dauer nicht helfen, dass jetzt für Pflege- und Krankenversicherung Gelder umgeleitet werden.
Rüstung statt armutsfester Rente?
Landesminister Danyal Bayaz sagte wörtlich, dass das alles ohne einen Rüstungssoli, die Abschaffung eines Feiertages und „unliebsamen Dingen bei den sozialen Sicherungssystemen“ nicht gehen werde.
Eine Solidaritätssteuer für die Aufrüstung, liebe Freundinnen und Freunde – da sind wir angekommen im Jahr 2025.
Wir dürfen innere Sicherheit nicht gegen äußere ausspielen. Wie es bei der Frage Krieg und Frieden auf unserem Kontinent weitergeht, kann keine Seite hundertprozentig sicher beantworten.
Wie es aber mit unserem Land weitergeht, wenn alles Soziale für Aufrüstung unter die Räder kommt, das lässt sich sicher vorhersagen. Wenn der soziale Zusammenhalt verloren geht, dann marschieren die Feinde der Demokratie durch.
Nie wieder Faschismus und nie wieder Krieg gehören zusammen!
Liebe Freundinnen und Freunde,
In der Friedensbewegung der 1970er und 80er Jahre hieß es: „Schwerter zu Pflugscharen“. Das Bibelzitat stand für die Hoffnung einer Konversion der Rüstungsindustrie zu ziviler Produktion.
Und es war ein Leitmotiv der Gründungsjahre der Grünen. Im Jahr 2025 fordert unser Ministerpräsident, der oberste Grüne im Land, Pflugscharen zu Schwertern zu schmieden. Ohne rot zu werden, wird die Rüstungsindustrie als Role-Model für den Erhalt der industriellen Produktion in Baden-Württemberg gepuscht. Panzer statt Autos: Das ist keine populistische, sondern eine erschreckend realistische Schlussfolgerung.
Liebe Freundinnen und Freunde,
ich habe persönlich keine Minute gezögert, als ich gefragt wurde, ob ich den Berliner Appell unterzeichne, der nein sagt zur Aufstellung neuer US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland!
Ich bleibe der festen Überzeugung: Mehr Waffen bedeuten nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Opfer von Kriegen. Es gibt mehr als genug Waffen auf dieser Welt, wir brauchen nicht noch mehr. Denn jede Waffe findet ihren Krieg!
Das Gebot der Stunde ist nicht massive Aufrüstung, sondern Dialog. Dazu werden wir auch mit Feinden reden müssen. Das ist nicht leicht, das tut weh, auch mir.
Aber zum Dialog gibt es keine Alternative. Wir müssen zurück zum Geist der Entspannungspolitik!
Eben weil wir seit 2022 wissen, wie leicht aus einem kalten ein heißer Krieg werden kann.
Liebe Freundinnen und Freunde,
lasst uns unseren pazifistischen Kompass fest im Blick behalten. Unser Kurs ist auch bei stürmischer See der richtige.
Vielen Dank.
Martin Gross ist Landesbezirksleiter der Gewerkschaft ver.di in Baden-Württemberg