Es war 6 Uhr morgens, als die Durchsuchungen begannen. Kurz zuvor war die Gruppe „Palästina Solidarität Duisburg“ verboten worden, nun wurden die mutmaßlichen Mitglieder und ihre Familien von der bewaffneten „Staatsräson“ heimgesucht, schikaniert und vorgeführt. Einen Tag lang konnte sich Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) dank bundesweiter Berichterstattung im Lichte der eigenen Rechtschaffenheit sonnen. „In vielen Fällen verbirgt sich hinter der Solidarität mit Palästina nichts anderes als Judenhass“, hatte es in seiner Presseerklärung geheißen. Auf Belege dafür wurde verzichtet. Man habe „heute klare Kante gegen Extremismus“ gezeigt, so Reul.
Es fällt nicht leicht, mit den Verdrehungen in der deutschen Nahost-Politik mitzuhalten. Ausgerechnet im Land der pseudointellektuellen „Faktenchecker“ und „wehrhaften Demokraten“ wird mit aller Macht die dümmste aller Erzählungen durchgesetzt: die Gleichsetzung des Staates Israel mit dem Judentum. Und gerade die, die für die Unterscheidung kämpfen, werden als „Antisemiten“ abgestempelt. Solidarität mit Palästina, Widerstand gegen Besatzungspolitik und Völkermord? „Judenhass!“, tönt es in der bürgerlichen Presse und aus den staatlichen Institutionen. Es ist, als lebe man in einem antideutschen Fiebertraum. Doch dahinter steckt keine kollektive Psychose, sondern ein gezielt vorangetriebener reaktionärer und militaristischer Umbau des bürgerlichen Staates.
Dass es inzwischen nicht mehr notwendig ist, politischen Aktivisten Gewalt vorzuwerfen, um sie für ihre abweichende Meinung zu verfolgen, hatte schon der erzwungene Abbruch des Palästina-Kongresses in Berlin bewiesen. Solche Aktionen sollen nicht nur einschüchternd auf die Betroffenen wirken, sondern auch die restliche Gesellschaft auf Linie bringen. Ausgrenzung, Jobverluste und die Zerschlagung von Grundrechten sollen hingenommen werden, solange es nur „die Richtigen“ trifft. Wer es wagt zu widersprechen, findet sich schnell selbst auf der „falschen“ Seite wieder. So entsteht ein Klima, in dem Kundgebungen an Universitäten brutal aufgelöst werden können, in dem Menschen für ihre Meinung vor Gericht landen und in dem sich selbsternannte „Journalisten“ berufen fühlen, auf Demonstrantinnen loszugehen.
Medien und Politiker, die diese Stimmung anheizen, stören sich nicht am offensichtlichen Widersinn ihrer moralisch begründeten Politik. Die „Palästina Solidarität Duisburg“ wurde verboten, weil sie „sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung“ gerichtet haben soll, während Vernichtungsfantasien gegen Russland schon fast zum guten Ton gehören. Die Ministerin, die „Russland ruinieren“ will, bleibt ebenso im Amt wie diejenigen, die russische Gebiete mit Marschflugkörpern angreifen wollen. Dabei ist das Gewese, das die Kriegstreiber in den letzten zwei Jahren um die eigene Interpretation des Völkerrechts veranstalteten, etwas leiser geworden – es verträgt sich nicht gut mit der „Staatsräson“.
Was haben Scholz, Baerbock und Co. wohl gedacht, als zu Wochenbeginn das Porträt Netanjahus auf allen großen Nachrichtenseiten prangte? Erkannten sie sich selbst wieder im Gesicht des hofierten Kriegsverbrechers, gegen den ein internationaler Haftbefehl beantragt wurde? Am Ende des Tages ist das bedeutungslose Küchentischpsychologie. Denn die Bundesregierung hat sich längst entschieden und das eigene Schicksal an die Verteidigung einer untergehenden ausbeuterischen Weltordnung gekettet. Im Streben danach, eine militärische „Führungsmacht“ zu werden, geht sie bewusst über Leichen – ob in Gaza oder in der Ukraine. In Anbetracht dessen erscheint die schrittweise Beseitigung des „Rechtsstaates“ und seiner vermeintlich garantierten Grundrechte als kleines Opfer für die Interessen des deutschen Monopolkapitals. Das werden auch noch diejenigen erfahren, die sich derzeit voller moralischer Entrüstung für den Kriegskurs einsetzen.