Wir haben keine Angst vor den neuen Klängen, auch keine Angst vor politischer und sozialkritischer Musik“, so Daniel Osorio vor einigen Jahren im Interview (UZ vom 12. Februar 2016). Beim UZ-Pressefest 2016 war das zu hören, auch ein Vorschein der Utopie des „Leben, ohne Angst zu haben“ (Hanns Eisler in seinem letzten Werk, den „Vier Ernsten Gesängen“, 1962).
Die nicht selten überraschenden, ungewöhnlichen, schroffen Klänge von Osorios Musik lassen in jedem Fall aufhorchen. Sie sind, um es mit einem gängigen Phrasenwort zu sagen, oft „gewöhnungsbedürftig“. Aber wir mussten und müssen uns an so viel gewöhnen: an die täglichen Toten der westlichen „Weltordnungskriege“, an die im Mittelmeer und an EU-„Außengrenzen“ gestorbenen Flüchtlinge (wodurch sich die EU einmal mehr als „ein feste Burg“ westlicher Menschenrechte erweist), an den alltäglichen Ärger mit einem nur am Wohl der „Wirtschaft“ orientierten Umgang mit einer Pandemie, an den alltäglichen, endemischen Terror rechter Regierungen in Lateinamerika. Daher ist positiv Ungewöhnliches wie Osorios Musik eine erhebliche Entlastung und, hört man sich ein, etwas Erfreuliches.
Der chilenische Komponist Daniel Osorio, Jahrgang 1971, lebt seit 2005 in Saarbrücken und studierte dort an der Hochschule für Musik Saar Komposition und Elektroakustische Musik. In seinen Kompositionen verbindet er Lateinamerikanisches und Avantgarde-Musikalisches, oft mit elektroakustischen Verfahren zusätzlich bearbeitet. Das ist auf seiner neuen CD „Zikkus“ zu hören. Hier verarbeitet er unter anderem Folklore der Anden – so, wie die gemeinsam mit Romina Tobar geleitete Gruppe „musikandes“ (also ein Kofferwort, Musikanten und Musik aus den Anden) die Tradition des politischen Liedes in Chile, den „Nueva Canción“, weiterführt. Die Reihe „Zikkus“ besteht aus Werken jeweils für ein Solo-Instrument und live-elektronische Begleitung. Die CD enthält folgende Werke: „Zikkus F“ für Flöte (2007) – der Beginn der Werkreihe –, B für Bariton-Saxophon (2013), V für Violoncello (2007), P für Piano (2010), K für Klarinette (2021). Dokumentiert wird also ein Ausschnitt aus der Arbeit von über einem Jahrzehnt.
Die andinen Musikinstrumente wie die Panflöte „sikus“, hier als „Zikkus“ leicht verfremdet, waren unter der Militärdiktatur ab 1973 verachtet und verboten, da sie mit den vorausgehenden sozialistischen Ansätzen unter Allende verbunden waren. Osorio baut subtile politische Anspielungen ein. So bezieht sich „Zikkus F“ auf die Erzählung „Reunión“ (Versammlung) des argentinischen Autors Julio Cortázar; in diesem wiederum spielt die durch Asthma erschwerte Atmung Che Guevaras eine wichtige Rolle. Die rituelle Bedeutung des Atmens wiederum verbindet andine Kulturen mit ost- und südasiatischen. „Zikkus V“ überträgt Elemente der Musik der Panflöten-Gruppen in Bolivien, Peru und Chile, der „Sikuris“, samt damit verbundenen Tanzbewegungen, auf das europäische Instrument Violoncello und in eine im Wesentlichen westeuropäisch geprägte Musiksprache. Diese interkulturelle Kombination und Konfrontation, wieder mit Elementen der „Sikuris“-Musik, wird schroffer in „Zikkus P“ bei dem Leitinstrument der bürgerlichen europäischen Musikkultur, dem Klavier. Als eine der interkulturellen Aneignungen traktiert es Osorio hier nicht nur live-elektronisch, sondern überdies auch als eine Art präpariertes Klavier mit allerlei Alltagsgeräten. In „Zikkus S“ bezieht sich Osorio auf die Panflöte „j’acha“, die mit ihren langen Rohren tiefe Töne und ein weitgefächertes Klangspektrum erzeugt. Instrument wie Klang gehörten zum Widerstand besonders der Aymara gegen die spanischen Kolonisatoren samt deren Klerus, die alles „Heidnische“ ausrotten wollten im Interesse einer auch ideologischen Unterwerfung. „Zikkus K“ schließlich greift ebenfalls auf Aymara-Traditionen zurück. Ein spezieller Typ der „Sikuris“, die „surì siku“, erzeugt beim Spiel ineinandergeschachtelte Echoeffekte einer Art Frage-Antwort-Struktur mit polyphoner Anmutung, die wiederum auf symmetrische dialektische Gegensatzpaare wie Frau-Mann, Tal-Hochebene in der Aymara-Kultur verweist. (Informationen nach den Kommentaren von Osorio und Alena van Wahnen im CD-Beiheft.)
Diese auch fürs Hören anspruchsvolle Seite seiner musikalischen Arbeit für eine bessere, soziale, friedliche Welt ergänzt Osorio durch vielfältige Aktivitäten schon im kleinen, alltäglichen Hier und Heute. In Saarbrücken arbeitet er zum Beispiel mit Kindern in der Schule wie einst Dessau, Eisler, Henze. Er beteiligt sich an interkulturellen Musikprojekten wie „PatchWorkCity“ oder schreibt für Chöre aus Georgien, Frankreich und Deutschland oder für das Lesbisch-schwule Chorfestival (SaarQueerele 2012). Für den „Beschwerdechor“ (nach einem Kölner Modell von 2010) „Lamento“, gefördert vom Zuwanderungs- und Integrationsbüro ZIB in Saarbrücken, geleitet von Amei Scheib, komponierte er „Jaque“ (2011) – für absolute Musikamateure, die aber sogar selber den Text verfassten und darin aus ihren Alltagssituationen soziale Forderungen ableiteten. Das 2016 „wichtigste Projekt“ für ihn war die Werkstatt für Musik mit den Obdachlosen in der „Wärmestube“. Die „musikandes“ musizieren dort mit Obdachlosen, die ihrerseits Musik wie Texte machen. Das ist weit weg von Anden und künstlerischer Avantgarde und doch die andere Seite derselben, doppelt wertvollen Medaille.
Zahlreiche weitere Klangbeispiele von Werken und Informationen auf
danielosorio.de bzw. soundcloud.com/danielosorio. Daniel Osorio: Zikkus. CD, Die Chronopien – Kollektiv für Interkulturelle Neue Musik. NEOS Music GmbH 12121 (2021)