Kinder des kurdischen Volkes

Olaf Matthes im Gespräch mit Leyla Imret

Leyla Imret war bis 2015 Bürgermeisterin von Cizre. Die türkischen Behörden haben sie abgesetzt und angeklagt.

UZ: Sie leben in Cizre, Sie waren auch während der letzten Ausgangssperre in der Stadt. Sie wohnen in einem der Viertel, das immer wieder von Polizei und Armee angegriffen wurde. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Leyla Imret: Die Ausgangssperre hat 84 Tage gedauert. Niemand hatte damit gerechnet, dass die Ausgangssperre so lange dauern würde. Die Leute haben nach der letzten Ausgangssperre letztes Jahr im September angefangen, Lebensmittel zu horten. Aber nach einem Monat war von diesen Vorräten nichts mehr übrig, frisches Obst und Gemüse hatten sie überhaupt nicht. Viele sind aus der Stadt geflohen.

Hier war es lebensgefährlich. Die Menschen konnten nicht vor die Tür gehen, weil sie dort von Kugeln oder Granatsplittern der türkischen Truppen hätten getroffen werden können. Die Armee hat auch mit schweren Waffen angegriffen. Manchmal haben sie auf Wohnhäuser geschossen, da sind auch Menschen ums Leben gekommen.

Manche haben versucht, sich in einem Keller in Sicherheit zu bringen, oben war es durch den Beschuss zu gefährlich. Mehr als zwei Wochen lang haben die HDP-Abgeordneten sich dafür eingesetzt, dass eine Gruppe, die in einem Keller war – darunter auch Verletzte – diesen Keller sicher verlassen können, aber die Armee hat das verhindert. Einige Leute haben versucht, zu dem Keller zu gehen, um die da rauszuholen. Die wurden dann leider festgenommen. Zwei Menschen wurden dabei auch erschossen.

Zum Schluss haben wir die Leichen der Menschen aus dem Keller geholt. Die Familien haben ihre Toten nicht mehr wiedererkannt, weil die Leichen verbrannt waren, sie konnten nur durch DNA-Tests identifiziert werden. In diesen 84 Tagen kamen fast 250 Menschen in Cizre ums Leben. Unter den Toten sind auch ältere Menschen, auch ein drei Monate altes Kind.

UZ: Die türkischen Behörden behaupten ja, dass die Toten Terroristen gewesen seien. Was sagen Sie dazu?

Leyla Imret: Unter den Toten waren ältere Menschen und junge Aktivisten. Es waren keine Bewaffneten. Wir haben die Namen der Toten an den Innenminister gemeldet. Ich sage dazu: Das waren Kinder dieses Volkes.

UZ: Wie sieht es jetzt in Cizre aus?

Leyla Imret: Die Stadt ist zerstört und zerbombt. Wenn man sich die Stadt anguckt, sieht man: Das sind keine Wohnungen mehr, in denen man wohnen kann. Viele Häuser sind zerstört, zerschossen und abgebrannt. In vielen Häusern, die nicht gebrannt haben, haben das Militär und die Spezialeinheiten der Polizei alles zerstört: Sie haben die Fernseher, die Waschmaschinen, die Schränke kaputt gehauen und alles durchein­ander gebracht.

UZ: Was machen die Menschen jetzt? Wie kann man in Cizre im Moment leben?

Leyla Imret: Viele sind zu ihren Nachbarn oder Verwandten gezogen, weil ihre Häuser unbewohnbar sind. Es sieht schrecklich aus. Alles ist zerstört. Sie versuchen, zumindest ein Zimmer ihrer Wohnung herzurichten. Es gibt Unterstützung und Solidarität aus anderen Städten, auch von den Stadtverwaltungen, die Nahrungsmittel und andere Sachen schicken, damit die Menschen hier nach drei Monaten der Ausgangssperre wieder zu sich kommen können. Jetzt versuchen die Leute, die Schäden zu beseitigen und die Stadt wieder aufzubauen.

UZ: Neulich hat die AKP-nahe Zeitung „Sabah“ gefordert, die HDP zu verbieten, weil sie angeblich den „Terrorismus“ unterstütze. Ist es für Sie als HDP-Politikerin überhaupt möglich, öffentlich für einen Frieden in den kurdischen Gebieten zu arbeiten?

Leyla Imret: Man fühlt schon, dass jetzt alles ein bisschen schwieriger ist, auch für die HDP. Die HDP wird ja vom Staat nicht wirklich wahrgenommen, auch die Parlamentsabgeordneten der HDP nicht. Die Politiker der HDP sind ein Ziel zum Beispiel für Festnahmen, sie sind in Gefahr. Öffentliche Äußerungen können für die Behörden ein Anlass sein, Politiker verhaften zu lassen. Man kann nicht mehr so bequem Politik machen. Natürlich ist es schwierig für uns, unter diesen Bedingungen die Bewegung für einen Frieden zu führen.

Die Regierung saß drei Jahre lang mit Herrn Öcalan an einem Tisch und hat über einen Frieden verhandelt. Warum gab es diesen Friedensprozess, wenn doch die PKK angeblich Terroristen sind? Warum hat die Regierung einen Dialog mit ihnen geführt? Und jetzt sagt die Regierung, die HDP ist auch terroristisch oder sie unterstützt Terroristen. Wir unterstützen keine Terroristen, wir setzen uns für den Friedensprozess ein.

UZ: Sie selbst sind im November festgenommen worden, sie dürfen das Land nicht verlassen.

Leyla Imret: Genau. Im September, während der ersten Ausgangssperre, wurde ich als Bürgermeisterin von Cizre abgesetzt. Da haben die Behörden ein Interview, das ich gegeben habe, verfälscht, um einen Vorwand zu finden. Während der letzten Ausgangssperre wurde ich festgenommen, nach meiner Freilassung haben sie mir verboten ins Ausland zu reisen. Ich muss mich jede Woche bei der Polizei melden.

Das war keine juristische Entscheidung, das war eine politische Entscheidung. Sie haben mich wieder vor Gericht gestellt wegen einer Behauptung, die nicht stimmt, die total gelogen ist. Wir befinden uns in einem harten Kampf. Es ist eine schwierige Zeit, auch für mich und für dieses Volk.

Wir wollen natürlich, dass sich so schnell wie möglich alles normalisiert, dass die Unruhen aufhören, dass der Friedensprozess wieder auf den Tisch kommt. Die Angriffe auf unsere Stadt tun uns nur weh. Ich wünsche mir, dass die Regierung sich auf einen Friedensprozess einlässt. Das ist unsere Hoffnung.

UZ: Als ich im vergangenen Oktober in Cizre war, kurz nach der ersten Ausgangssperre, habe ich die Zerstörungen gesehen. Aber ich habe auch gesehen, dass die Menschen versucht haben, sich mit Barrikaden vor den Angriffen der Polizeieinheiten zu verteidigen. Wie ist das heute?

Leyla Imret: Ich kann darauf nicht antworten. Im vergangenen September habe ich in einem Interview gesagt: Ich habe die Angst, dass es noch mehr Unruhen gibt, wenn es keinen Friedensprozess gibt. Die türkischen Medien haben das manipuliert und behauptet, ich würde zum Bürgerkrieg aufrufen. Dabei habe ich nur unseren Wunsch, den Wunsch des kurdischen Volkes, nach Frieden ausgedrückt. Deshalb muss ich bei jedem Wort aufpassen, das ich sage.

UZ: Was ist stärker in Cizre: Die Angst vor neuen Angriffen der Armee oder die Hoffnung auf einen Frieden?

Leyla Imret: Die Angst vor der Armee gibt es, aber die Hoffnung auf einen Frieden ist stärker.

UZ: Cizre gehört zu den Städten, die im vergangenen Jahr eine kurdische Selbstverwaltung ausgerufen haben. Kann so eine Selbstverwaltung eine Perspektive für die Kurden sein?

Leyla Imret: Das kann eine Perspektive für alle Bürger sein, für die ganze Türkei. In Europa ist das ja auch möglich. Warum sollte es in der Türkei nicht möglich sein? Vielleicht ging es bei diesen ganzen Unruhen ja auch genau darum. Aber in Rojava sehen wir ja, dass eine Autonomie, eine Selbstverwaltung möglich ist.

UZ: Cizre liegt direkt an der Grenze zu Rojava. Was bedeutet Rojava für Sie?

Leyla Imret: Die Grenze zu Rojava ist abgeriegelt. Aber Rojava ist für uns ein Teil von uns selbst, unser Herz schlägt auch dort, wir sind ein Volk. Nur die Grenze ist dazwischen. Viele von uns haben Verwandte dort. Wenn es den Menschen dort nicht gut geht, kann es uns hier auch nicht gut gehen. Wenn Rojava Erfolg hat, ist das ein Erfolg für alle Kurden. Unsere Gefühle sind dieselben.

UZ: Wie bewerten Sie die Angriffe der türkischen Armee auf Rojava?

Leyla Imret: Rojava hat große Erfolge im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) gehabt. Die Türkei will das nicht, sie wollen als Nachbarn wohl lieber die Terroristen des IS als die Kurden haben.

UZ: Was muss passieren, damit es Frieden gibt?

Leyla Imret: Es muss Druck aus Europa auf die Türkei geben, damit es einen wirklichen Friedensprozess gibt, damit die Unruhen aufhören. Wir brauchen, wie in Rojava, eine gute Lösung. Aber für die EU steht die Flüchtlingsfrage an erster Stelle, das ist das Problem. Jetzt kann es sein, dass auch das Volk von Cizre durch die Angriffe der Armee zur Flucht getrieben wird, dass auch die Menschen von hier nach Europa fliehen müssen. Hier ist man ja seines Lebens nicht sicher. So wird das Flüchtlingsproblem immer größer. Man muss menschlich denken.

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"Kinder des kurdischen Volkes", UZ vom 18. März 2016



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