Resümee eines Jahrhunderts, das noch nicht einmal zu einem Viertel vonstatten gegangen ist? Diedrich Diederichsens jüngst erschienener essayistischer und journalistischer Vorlass trägt den Titel „Das 21. Jahrhundert“. Eine Frechheit, die der 66-jährige Kulturwissenschaftler und Kritiker abgekupfert hat, wie er im Vorwort zu seiner Verteidigung gesteht: Jener „Größenwahn“ sei „von Carl Einstein inspiriert, der seine ‚Kunst des 20. Jahrhunderts’, den Band 16 zur Propyläen-Kunstgeschichte, schon 1926 veröffentlichte.“
Während anderswo der Postmarxismus seine Popsternchen generiert – bis dahin, dass durchaus gesellschaftlich relevant zugehört wird, wenn ein Slavoj Žižek etwas aus den Abendnachrichten kommentiert –, geht es hierzulande mit der explizit nicht-systematischen und weit mehr performativen Philosophie bräsig, also richarddavidprechtig zu. Der gebürtige Hamburger, Tauschwertkritiker und Connaisseur der Fettecken aller Künste Diederichsen fällt da hierzulande etwas aus dem Muster.
Auch wenn niemanden interessiert, was er zu diesem oder jenem in der Tagespolitik zu sagen hat, sind seine Rezensionen und Analysen breiter rezipiert als es der spät im deutschsprachigen Raum etablierten Kulturwissenschaft – deren Stellenwert etwa im Überbau der USA ein ganz anderer ist – sonst gelingt. Das mag mit der Biografie seines (westdeutschen Akademiker-)Publikums zu tun haben: Die scheinen es gewohnt zu sein, dass man ihre 68er nachträglich delegitimiert, ob selbst miterlebt oder im Haushalt jener Rebellinnen und Rebellen von anno dazumal groß geworden, samt ihrer Sexualmoral, ihren Anti-Springer-Sit-ins, ihren Dutschkes und Cohn-Bendits. Leute wie Letzterer arbeiten da emsig mit, jeden linken Ansatz – so falsch oder richtig er auch ist – als Gesellschaftsalternative mit der eigenen Scheiße zu beschmieren. Diederichsen stattdessen verteidigt historisch weit ins letzte Jahrhundert hineinwühlend die außerparlamentarisch-oppositionelle Ruine samt ihrer künstlerisch bewaffneten Arme, Beine und Tentakel und der daraus folgenden Projekte nahezu beißreflexiv. Für manche eine Art Restgewissen dessen, was man als Kindereien (vielleicht zu Recht, aber nicht zum allgemeinen Nutzen) abgelegt hat, um sich als falscher Erwachsener zu verkleiden, damit man an den Berghain-Türstehern des Establishments vorbeikommt.
Das Nicht-Etablierte verteidigt Diederichsen dann auch bis zur gefährlichen Blödheit: 2000 nimmt er im Essay „Kunst? Besser als Utopien!“ den österreichischen Aktionsartisten und Guru Otto Muehl (1925 – 2013) in Schutz, weil dem Anfang der 1990er der Prozess wegen Kindesmissbrauchs in seiner Kommune gemacht wurde (und der sich erst kurz vor seinem Ableben kaum viertelgar dafür entschuldigte, was er Minderjährigen angetan hat); eine staatliche „Racheaktion“, die Diederichsen mit dem gleichzeitig stattfindenden politischen Schauprozess der Bundesrepublik gegen Erich Honecker so ganz nebenbei parallelisiert. Wie Geschichte nun mal ist, hat Diederichsen in „Das 21. Jahrhundert“ derlei Fehleinschätzungen nicht getilgt oder nachträglich korrigiert.
Was sein Korrelat Muehl-Honecker zeigt: Diederichsens Argumentation ist nicht immer stringent; manchmal setzt sie genau da aus, wo es interessant wird. Wenn er in „Zwischen zwei Hinrichtungen: Die originale Intersektion“ etwa dazu ansetzt, herzuleiten, warum sich diejenigen, die sich dem Klassenkampf von unten verschrieben haben, mit Aspekten des Intersektionalismus beschäftigen sollten, und Abel Meeropol (1903 – 1986) anführt, einen jüdisch-US-amerikanischen Kommunisten, der in Anbetracht eines Mordes an zwei Afroamerikanern das Gedicht „Bitter Fruit“ verfasst – die Grundlage für den von ihm 1937 geschriebenen und später unter anderem von Billie Holiday interpretierten Song „Strange Fruit“ – und später, nach der Hinrichtung der wegen Spionage für die Sowjetunion zum Tode verurteilten Ethel und Julius Rosenberg, mit seiner Frau deren Söhne adoptiert, dann folgt darauf bei Diederichsen der Abbruch der Herleitung.
Vielleicht macht auch das ihn und das Interesse des KuWi-Mainstreams an ihm aus: Als Antikapitalist verweist er wenig auf etwas nach dem Kapitalismus, seine im Vorwort als notwendig erklärte Zusammenarbeit der Linken mit „Wirtschaftsliberalen“ zur Verhinderung übleren Übels in Form von Faschismus und Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlage, also eine Flankierung der Verhältnisse von links, die „militärisches Denken“ abverlangt und implementiert, „Bewaffnung (zu) befürworten“, liest sich dann doch wie der Weg allen Sponti-Fleisches, nicht durch die Institutionen hin zum Sturz der Verhältnisse zu sickern, sondern in die Institutionen hinein als dessen Fremdblutdoping. Der flapsige Umgang Diederichsens mit der Hegelschen „bestimmten Negation“, da, wo er vielleicht eine konkrete, eine (moralisch) angebrachte, punktuelle Negation meint, zeugt davon, dass man von Diederichsen vielleicht auch nicht verlangen sollte, sich über die Zukunft zu äußern.
Stattdessen aber lässt sich auch für Marxistinnen und Marxisten einiges bei Diederichsen mitnehmen, wenn er vom Adorno entlehnten „Materialstand“ des Pop spricht (Diederichsen: „Der ‚Materialstand‘ ist ein ästhetischer Begriff; er beschreibt die Entwickeltheit des für künstlerisches Arbeiten verfügbaren Materials als einen Zusammenhang aus noch Möglichem und verbindlich Ausgeschlossenem, Negiertem.“) Seine Porträts von Michael Jackson, Iggy Pop und Lady Gaga (Diederichsen macht in „Lady Gaga: Lieber Dialektik als Spagat“ wichtige Punkte zum Pop: „Gute Pop-Musik entsteht als unmarkiertes Nebenprodukt guter Posen und Positionen, sie ist der beiläufig abfallende Sound guter und richtiger Ideen“) sind anderswo in unserer Sprache näher am dialektischen Materialismus kaum zu haben. (Die in UZ-Kreisen wohlbekannte Ausnahme, die sich im FAZ-Feuilleton verdingt, einmal außen vor.) Und auch gegen seinen Punkt gewendet ist der lexikalisch-wissende Diedrich Diederichsen interessant, dann etwa, wenn er in „Constanze und Variable“ so korrekt wie ungewollt darauf hinweist, dass das postdramatische Theater nichts anderes ist als Urlaub fürs Gehirn: „Ich erhole mich in sogenannten postdramatischen Theaterstücken der verschiedensten Art von genau der Tyrannei der Narration, der dauernden Inszenierung und Entschlüsselung von sinnvoller und intentionaler Handlung fiktiver Personen, die den Rest unseres kulturellen Alltags bestimmen.“
Diedrich Diederichsen
Das 21. Jahrhundert. Essays
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 1.136 Seiten, 58 Euro