Nunmehr 50 Tage sind vergangen, seit die peruanische Rechte Pedro Castillo seines Amtes enthoben und Dina Boluarte als Präsidentin eingesetzt hat – breite Proteste für sofortige Neuwahlen, eine Verfassunggebende Versammlung und die Absetzung des rechtsdominierten Kongresses waren die Folge. Diese 50 Tage haben ein blutiges Resümee: 63 Menschen – darunter sieben Minderjährige – starben bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe bei den Protesten, 50 von ihnen durch Polizei- und Militärgewalt wie Schusswaffengebrauch. Dazu kommen etwa 1.100 Verletzte, etwa 22 am Tag. Die Nationale Polizei Perus versucht dabei mit allen Mitteln, sich gegen die Gewaltvorwürfe zu wehren und die Schuld auf angebliche bewaffnete Terroristen unter den Demonstranten zu schieben. So gab etwa die Polizei der Andenregion Junín an, 300 Demonstranten Waffen abgenommen zu haben, darunter Fahnen, Schilder, Wasserflaschen – und Kekse.
Während die Polizei in Junín mit gefährlichen Keksen beschäftigt war, hatten deren Kollegen in der Hauptstadt andere Sorgen: Zu den Großdemonstrationen in Lima waren zahlreiche Delegationen aus den Provinzen angereist, um die Proteste symbolisch wie solidarisch zu unterstützen und von den Erfahrungen im ganzen Land zu berichten. 600 der angereisten Unterstützer hatten Unterkunft in der ältesten Universität des amerikanischen Kontinents gefunden, der Universidad Nacional Mayor de San Marcos (UNMSM). An der renommiertesten staatlichen Universität Perus, die allgemein einen linken Ruf pflegt, hatten Studenten schon in den 1990er Jahren Widerstand gegen die Fujimori-Diktatur organisiert. Viele von ihnen wurden daraufhin gefoltert und ermordet.
30 Jahre später ist die UNMSM wieder zentraler Ort der Proteste: Die Universität wurde besetzt und ein Anlaufpunkt für die Delegationen geschaffen. Nach wenigen Tagen erfolgreicher Besetzung kam es zur Stürmung durch die Polizei. Diese brach mit Polizeipanzern die verbarrikadierten Tore der UNMSM auf, hunderte Polizisten gingen mit Gummigeschossen und Tränengas brutal gegen die anwesenden Protestierenden vor. Dabei kam es zu über 200 Festnahmen, Wohnheime auf dem Campus wurden verwüstet und die peruanische Koordinationsstelle für Menschenrechte gab an, dass Studentinnen misshandelt worden seien.
Die Stürmung der UNMSM durch die Polizei hatte dabei keinen juristischen Rahmen, es gab weder Haftbefehle noch eine richterliche Anordnung. Begründet wurde das Vorgehen mit dem noch immer geltenden Ausnahmezustand in Lima. Den Festgenommen wurden Anwälte verweigert, die Verhöre durch die Nationale Antiterrorismusbehörde dauerten auch am Tag nach der Verhaftung an. International wurden diese Ereignisse unter anderem von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte und vom kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro verurteilt, der die Organisation Amerikanischer Staaten dazu aufrief zu ermitteln. Die Polizei in Lima hingegen setzt weiter auf Eskalation: Am vergangenen Wochenende wurde, wie Videos belegen, einem Demonstranten aus nächster Nähe in den Rücken geschossen – er starb noch an Ort und Stelle. Dies ist der erste Tote durch staatliche Repression in Lima selbst.
De-facto-Präsidentin Boluarte hielt am Sonntagabend eine Rede an die Nation, in der sie die Toten mit keiner Silbe erwähnte. Vielmehr phantasierte sie wiederholt über ausländische Kräfte, die Terroristen gegen ihre legitime Regierung auf die Straße mobilisierte. Dennoch scheinen die Proteste erste Wirkungen zu erzielen: Bisher hatte Boluarte an ihrem Plan festgehalten, erst im Frühjahr 2024 Neuwahlen abzuhalten. Nun forderte sie den Kongress auf, die Neuwahlen auf den Herbst diesen Jahres vorzuziehen. Sollte dieser sich weigern, werde sie die Neuwahlen durch eine Verfassungsänderung selbst initiieren. Derweilen stellte eine Gruppe Abgeordneter aus der linken Minderheit einen Antrag auf Amtsenthebung Boluartes aufgrund „moralischer Unfähigkeit“. Auch der parlamentarische Druck auf Boluarte steigt.