Der Verlag ist sich selbst nicht so ganz sicher, was er da publiziert hat: Einfach ein „Prosawerk“ ist es laut Webseite. Ein „Essay“ ist es, schreibt die Presseabteilung in der Mail zum Versand der Druckfahnen. Selma Kay Matters „Muskeln aus Plastik“ lässt sich gut und gern auch als autofiktionaler und mit Lyrik gespickter Roman lesen; mag dagegen auch sprechen, dass der Text ausgiebig befußnotet und mit Literaturliste und einem Begriffsapparat versehen ist. Letzterer hilft jenen, die mit dem Jargon linksliberaler Identitätspolitik nicht vertraut (und dieser vielleicht auch nicht wohlgesonnen) sind, die Übersetzungen in den Anmerkungen helfen Leserinnen und Lesern ohne Englischkenntnisse, die Originalzitate, meist aus dem anglophonen Sprachraum, zu verstehen. Hier wird also auch zwischen den Buchdeckeln Sorge getragen, dass möglichst viele mitkommen.
Matter, 1998 in Zürich geboren und bisher vor allem durch Stücktexte (zuletzt: „Grelle Tage“, 2023 in Wien uraufgeführt) bekannt, mag beim Prosadebüt auch keine starren Grenzen ziehen und hat sich wohl unter anderem an der US-Amerikanerin Anne Boyer und ihrem Buch „The Undying: Pain, vulnerability, mortality, medicine, art, time, dreams, data, exhaustion, cancer, and care“ (hierzulande erschienen als: „Die Unsterblichen: Krankheit, Körper, Kapitalismus“) orientiert, für das Boyer 2020 den Pulitzer-Preis erhielt. Deren Werk sei ein „genre-bending memoir“, wie Matter schreibt und damit „Muskeln aus Plastik“ als textiertes Hybridwesen gleich mit charakterisiert.
Darin arbeitet Matter als Hauptlinie ihre von einer Corona-Infektion ausgelöste Fatigue-Erkrankung auf, die zu chronischer Erschöpfung führt. Kleinste Anstrengungen – von körperlicher Arbeit zur sozialen Interaktion, darunter fallend auch so eigentlich Erholsames und Schönes wie freundschaftliche oder romantische Begegnungen – können Betroffene komplett aus der Bahn werfen und von Schmerzen gepeinigt ans Bett fesseln. „Bei meinem dritten Termin will die Physiotherapeutin einen Leistungstest mit mir durchführen“, schreibt Matter im ersten Kapitel über die Long-Covid-Reha. „Ich sage, dass ich denke, dass das nicht so eine gute Idee ist, weil meine Belastungsintoleranz immer noch so ausgeprägt ist, dass ich nach einem Spaziergang, der 20 statt der regulären 15 Minuten dauert, mitunter Stunden bis Tage mit Gliederschmerzen im Bett liege.“
Viel vom Leben wird den Kranken verunmöglicht. Enge Freundschaften und Beziehungen gehen zu Bruch, Bildungs- und Berufswege müssen abgebrochen oder können gar nicht erst beschritten werden.
Diesen Sommer gingen bundesweit Verwandte und Bekannte von Betroffenen auf die Straße anstelle jener, die nicht demonstrieren können, weil ihnen die Kraft dazu fehlt beziehungsweise es sie dermaßen beanspruchen würde, dass ihnen die Krankheit eine politische Aktivität doppelt, drei- und tausendfach heimzahlen würde. Am 8. August schufen sogenannte Liegend-Demos Öffentlichkeit für ein Krankheitsbild, unter dem allein hierzulande mindestens eine halbe Millionen Menschen leiden. Die Dunkelziffer ist entsprechend hoch, gibt es in Deutschland doch nur zwei Anlaufstellen. Geld in Forschung wird kaum investiert, bisher vorhandene Medikamente lindern höchstens die Symptome. Wer unter Fatigue leidet, ist ein Langzeit-Pflegefall, und die Care-Arbeit übernimmt meist unbezahlt und ungehört deren Umfeld.
Für alle Beteiligten eine Zermürbung: Ohne Aussicht auf Heilung – oder den Gegensatz dazu, das Sterben – fehlt Krankheiten wie Fatigue „die Dramaturgie der Steigerung“, die Matter (in Bezug auf Boyers Buch) am „Krebsnarrativ“ als „schlüsselhaft“ ausmacht und die aus Betroffenen „tragische Helden“ macht.
Um Schicksal geht es Matter eben genau nicht, und auch nicht darum, mit der in „Muskeln aus Plastik“ proklamierten, umrissenen „Pflege als ästhetischer Praxis“ die einen gegen die anderen auszuspielen. Selbst queere Person, versucht Matter, intersektionalistisch die Bedürfnisse verschiedener Interessengruppen zusammen zu denken: In dem Beziehungsdreieck, von dem Matter eine Ecke ist, werden Probleme in Bezug auf Nonbinarität und Transsein aufgeworfen und mit dem synergiert und problematisiert, was die spezifischen Interessen von „crips“ – kurz für „crippled“ (dt. Krüppel) und damit eine ähnliche Aneignung eines diskriminierenden Wortes wie im Falle der einstigen homophoben Fremdzuschreibung „queer“ – anbelangt. So öffnet Matter das Problem zwar in Hinblick auf Grundsätzlicheres, ohne dabei jedoch – abseits vom die wirklich Besitzenden und Herrschenden aus der Schusslinie nehmenden Auseinanderklamüsern, wer der Ausgebeuteten das sogenannte Privileg hat, etwas mehr auf dem kleinen Konto zu haben als andere – die Eigentumsfrage zu stellen. Matter schreibt im Gestus der Aufklärung des einzelnen Individuums, das zur Einsicht gelangen soll: „Liebe als machtkritische Praxis in Zeiten des Kapitalismus bedeutet aus meiner Sicht nicht, dass man die Care-Arbeit für eine andere Person zu jedem Zeitpunkt gerne macht. Sie bedeutet schlicht, dass man sie – gewalt-frei – macht.“ Die Aufhebung der Eigentumsverhältnisse (so altbacken das auch klingen mag) ist und bleibt wesentliche Grundlage für ein kostenloses und nicht am Profit, sondern am Menschen ausgerichtetes Gesundheitssystem und eine Gesellschaft als Ganzes, die sich bewusst mit Diskriminierungen und deren Abschaffung befasst. Bis dahin sind Pflege und Sorge, bezahlte wie unbezahlte, auch wenn sie nicht durch Machtmissbrauch geprägt sind, als Ausbeutung der generellen Gewalt des Kapitalismus unterworfen.
Selma Kay Matter
Muskeln aus Plastik
Verlag Hanser Berlin, 240 Seiten, 23 Euro