Chiles Präsident sieht sich wachsenden Widersprüchen und ersten Protesten gegenüber

Keine Schonfrist für Boric

Gabriel Boric ist noch keine 100 Tage Präsident von Chile – doch von der berühmten „Schonfrist“, die in der bürgerlichen Demokratie traditionell einer neuen Regierung eingeräumt werden soll, ist wenig zu spüren. Linke Gewerkschaften und Basisgruppen haben für Mittwoch, 1. Juni (nach UZ-Redaktionsschluss), zu ersten größeren Protesten gegen die Wirtschaftspolitik des neuen Staatschefs aufgerufen. Wie in vielen Teilen der Welt richtet sich ihr Unmut gegen die steigenden Preise für Lebensmittel, Strom und Gas – und dagegen, dass auch in Chile die breiten Schichten der Bevölkerung und nicht die Reichen die Krise bezahlen sollen. „Boric & Co.“ seien eine „Marionettenregierung“, die vom Großkapital immer wieder daran erinnert werde, wer in dem südamerikanischen Land das Sagen hat: „dieselben Mächtigen wie eh und je“.

Der größte chilenische Gewerkschaftsbund CUT ist an den Protesten nicht beteiligt und hebt die positiven Leistungen des neuen Kabinetts hervor. So trat am 26. Mai die größte Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns in den vergangenen drei Jahrzehnten in Kraft. Rückwirkend zum 1. Mai beträgt er nun 380.000 Pesos, was rund 430 Euro entspricht. Am 1. August steigt der Mindestlohn dann auf 400.000 Pesos, also etwa 450 Euro. Zusammengenommen ist das eine Anhebung um 14,3 Prozent. Zudem hat die Regierung angekündigt, zum 1. Januar eine dritte Erhöhung vorzunehmen, sofern die Verbraucherpreise im Jahr 2022 insgesamt um mehr als 7 Prozent ansteigen.

In einer nicht ganz einfachen Lage befindet sich derweil die Kommunistische Partei Chiles. Sie stellt mehrere Ministerinnen und Minister im Kabinett Boric. So ist Camila Vallejo, die als Anführerin der Studierendenbewegung 2011 international bekannt wurde und ab 2013 für die KP im Parlament saß, nun die Regierungssprecherin. Raum für eigene Akzente bleibt ihr da wenig. Die müssen deshalb andere Abgeordnete setzen. So votierten mehrere KP-Mitglieder im März gegen die Verlängerung des Ausnahmezustands im Norden des Landes, durch den die Sicherheitskräfte Sondervollmachten erhalten. Zudem setzt sich die kommunistische Abgeordnete Karol Cariola dafür ein, dass Chilenen einen Teil ihrer Ersparnisse aus den Rentenfonds abheben dürfen, in die jeder Bürger einzahlen muss – die Regierung lehnt dieses Vorhaben ab.

Für Empörung sorgte zudem eine Äußerung des stellvertretenden Innenministers Manuel Monsalve, der die Existenz politischer Gefangener in Chile bestritten hatte. Alle Inhaftierten seien ordnungsgemäß verurteilt worden, behauptete der Sozialdemokrat. Marcos Barraza, kommunistischer Abgeordneter im Verfassungskonvent, wies das zurück. Insbesondere gebe es viele Mapuche, die aufgrund des Kampfes um ihre Rechte eingesperrt worden seien, viele Urteile seien durch gefälschte Beweise und Zeugenaussagen zustande gekommen.

Trotzdem bemüht sich die Kommunistische Partei, keinen Graben zu ihren Koalitionspartnern entstehen zu lassen. Gemeinsames Hauptziel ist die Verabschiedung der neuen Verfassung, über die am 4. September in einer Volksabstimmung entschieden werden soll. Am 16. Mai hatte der Konvent den ersten, 499 Artikel umfassenden Entwurf für das Grundgesetz vorgelegt, der die im Kern noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur stammende Verfassung ablösen soll. Demnach konstituiert sich Chile als „Plurinationaler und Interkultureller Staat“, in dem diverse Nationen und Völker zusammenleben. Ausdrücklich genannt werden elf indigene Völker, unter ihnen die Mapuche, Aymara und Rapa Nui, denen das Recht auf Autonomie und Selbstverwaltung zugestanden wird.

Doch nach jüngsten Umfragen droht das Projekt zu scheitern. Bis zu 46 Prozent der Befragten wollen demnach gegen die neue Verfassung votieren, nur zwischen 27 und 38 Prozent dafür. Dabei geht es den Gegnern offenbar nicht um die Inhalte des neuen Grundgesetzes, die einer Erhebung zufolge bis zu 97 Prozent von ihnen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen haben. Sie treibt das von der äußersten Rechten beschworene Schreckgespenst einer „Venezolanisierung“ Chiles um und die reaktionären Kräfte werden alles tun, um diese Unsicherheit weiter anzuheizen. Die nächsten Monate werden eine Bewährungsprobe für Chiles Regierung und die hinter der neuen Verfassung stehenden Parteien und Gewerkschaften sein.

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"Keine Schonfrist für Boric", UZ vom 3. Juni 2022



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