Schon vor den Landtagswahlen in Bayern und Hessen ist die Befürchtung laut geworden, es gebe bald keine „Volksparteien“ mehr. Selbst Koalitionen zwischen Union und SPD würden seltener möglich. Volksparteien – was ist (oder war) das?
Manchmal werden sie auch als interklassistische Parteien – also als das Gegenteil der Klassenparteien – bezeichnet. Ein erstes Beispiel in der deutschen Geschichte war die Zentrumspartei im Bismarck-Reich. Zu ihr gehörten katholische Bauern, Kleinbürger, Arbeiter und Unternehmer. Sie hatte sogar eigene Richtungsgewerkschaften. Auch die NSDAP versuchte, sich als Volkspartei darzustellen, war es aber nicht. Ein wichtiger Bestandteil: die Arbeiterklasse, fehlte lange fast ganz.
Nach 1945 erweiterte sich die Zentrumspartei zu CDU und CSU. Sie war jetzt interkonfessionell, hatte viele ehemalige Nazis in ihren Reihen, aber weiterhin einen einflussreichen Gewerkschaftsflügel, organisiert in der Christlich-Demokratischen (bzw. -Sozialen) Arbeitnehmerschaft.
Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Bundesrepublik stützte den Volkspartei-Anspruch der Union. Aus der Sicht des dominierenden Antikommunismus gab es keine Klassen mehr, sondern nur noch Demokraten.
Die SPD teilte zwar diese Auffassung, stellte sich aber nach wie vor als Arbeiterpartei dar und verzichtete ein Jahrzehnt lang auf den Volkspartei-Bonus. Dennoch trug sie in der Praxis zum „Interklassismus“ bei: Im Bund in der Opposition, regierte sie zugleich in vielen Ländern und Gemeinden. Die Union besetzte in Bonn die Schaltstellen der Macht, die SPD sorgte auf den darunterliegenden Ebenen für die sozialpolitische Innenausstattung, die aber auch CDU und CSU nicht aus den Augen ließen, zum Beispiel in der Gesetzgebung zur Montanmitbestimmung 1951, zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1957 und bei der Einführung der umlagefinanzierten Rente im gleichen Jahr.
Das ließ sich machen, weil es relativ viel zu verteilen gab. In der Rekonstruktionsphase des westdeutschen Kapitalismus waren Wachstumsraten und Arbeitskräftebedarf hoch, Zugeständnisse der Unternehmer an die Gewerkschaften unvermeidlich und ohne empfindliche Profit-Einbußen leicht bezahlbar.
Durch ihre Verankerung in den Apparaten von Ländern und Gemeinden gewann die SPD Zuzug von Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes (rechts maulte man über „Parteibuch“-Beamte) und kam so auf den Geschmack, ebenfalls eine Volkspartei zu sein. 1959 ratifizierte sie in ihrem Godesberger Programm diese Ansicht.
Die ökonomische Basis dieses Prozesses war ein Phänomen, das der Historiker Eric Hobsbawm einmal als das Goldene Zeitalter des Kapitalismus (1945–1973) bezeichnet hat. Durch die marktradikale („neoliberale“) Wende der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts entfielen dessen Voraussetzungen und damit auch die der Volksparteien.
Nun hat es der Überbau so an sich, dass er der Basis nur mit zeitlicher Verzögerung hinterher rutscht.
Als Erste erwischte es die SPD. Die nächste Generation derjenigen Akademiker(innen), die sie in den fünfziger Jahren gewonnen hatte, wandte sich, seit Anfang der Achtziger zusätzlich von Helmut Schmidt vertrieben, den Grünen zu, einer Milieupartei der inzwischen stark angewachsenen Massenschicht der Intelligenz. Es verblieb u. a. ein linker Flügel, der seit Godesberg 1959 gern gegangen wäre, aber nicht ins parlamentarische Aus stürzen wollte. Ihm bot seit dem Parteiwechsel Oskar Lafontaines dessen Linkspartei eine neue Möglichkeit. In der Schröder-Zeit wurde die CDU in einigen Ländern die größere Arbeiterpartei. Sie gab diesen Vorteil aus der Hand, als Angela Merkel auf dem Leipziger Parteitag 2003 den Gewerkschaftsflügel für lästig erklärte.
Auch hier stellten sich die Folgen nur allmählich ein. Aber was lange wankte, stürzt schließlich doch ruckartig.
So viel zu den neuesten Wahlergebnissen.