Spekulationen in der Bundesrepublik und weiteren westlichen Staaten, ein Sieg der Opposition bei der Präsidentenwahl in der Türkei am kommenden Sonntag könne zu einer außenpolitischen Annäherung Ankaras an den transatlantischen Block führen, gründen unter anderem auf einigen Äußerungen des Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu von der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) zur EU und zur NATO. Demnach will Kılıçdaroğlu im Falle eines Wahlsiegs binnen drei Monaten Visumfreiheit für türkische Bürger bei der Einreise in die EU erreichen. In Berlin gilt das zwar als völlig unrealistisch; es setzt aber eine gewisse Annäherung Ankaras an die EU voraus. Das trifft ebenso auf das Ziel des CHP-Vorsitzenden zu, die EU-Beitrittsgespräche mit Brüssel wieder aufzunehmen. Zudem will Kılıçdaroğlu Forderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Folge leisten und den Erdoğan-Gegner Osman Kavala sowie den Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş aus der Haft entlassen. Auch gegenüber der NATO will der Oppositionskandidat einen weniger konfrontativen Kurs einschlagen; so hat er etwa zugesagt, dem Beitritt Schwedens zu dem Militärbündnis zuzustimmen. Einige im Westen hoffen auf weitere Zugeständnisse, so etwa eine stärkere Beteiligung am militärischen Aufmarsch an der NATO-Ostflanke.
Beobachter und Experten stimmen demgegenüber weitgehend darin überein, dass ein Wechsel im türkischen Präsidentenamt zwar einen etwas weniger konfrontativen Stil in den Beziehungen zwischen Ankara und dem Westen mit sich bringen könnte, ansonsten aber kaum zu ernsthaften Kurskorrekturen führen wird. Kılıçdaroğlu hat dies unlängst bestätigt; auf einer Wahlkampfveranstaltung vor türkischsprachigen Bürgern Bulgariens stellte er fest, die Außen- und die Rüstungspolitik würden „vom Staat geführt“ und seien „unabhängig von der Politik politischer Parteien“. Vor allem auf drei wichtigen Feldern der türkischen Außenpolitik, auf denen Ankara unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan ernste Konflikte mit dem Westen insgesamt und mit der EU im Besonderen ausgetragen hat, werden keine größeren Veränderungen erwartet – im östlichen Mittelmeer, im Nahen Osten und in der Russlandpolitik. Grundlage der Kontinuität sind, neben historisch gefestigten strategischen Orientierungen, starke wirtschaftliche Interessen.
Im östlichen Mittelmeer würde eine von Kılıçdaroğlu geführte Regierung demnach an den Bemühungen festhalten, Zugriff auf die Erdgasvorkommen unter dem Meeresboden rings um Zypern zu erhalten. Auch im Streit um griechische Ägäisinseln wäre keine Kurskorrektur zu erwarten; Beobachter weisen darauf hin, auch der Oppositionskandidat habe bereits verlangt, einige dieser Inseln griechischer Kontrolle zu entreißen beziehungsweise sie „zurückzuholen“. Erwartet wird nur, Kılıçdaroğlu werde dabei stärker auf Verhandlungen statt auf militärische Drohgebärden setzen. Wie dies insbesondere im Fall der griechischen Inseln möglich sein soll, auf die Athen unter keinen Umständen verzichten wird, ist nicht erkennbar.
Auch Kılıçdaroğlus Pläne für die türkische Syrien-Politik weichen, soweit ersichtlich, nicht wesentlich von Ankaras Vorgehen unter Präsident Erdoğan ab. So wird ein offenbar gut vernetzter Vertreter der heutigen türkischen Opposition mit der Einschätzung zitiert, Ankara werde sich bei einem Wechsel im Präsidentenamt um Dialog mit Syriens Präsident Baschar al-Assad bemühen. Dies entspricht älteren Forderungen der türkischen Opposition, denen Erdoğan jedoch inzwischen nachkommt. Schon zu Jahresbeginn hatte der Präsident ein Gipfeltreffen mit Assad in Aussicht gestellt – offenbar als Teil der Bemühungen um eine Normalisierung der regionalen Beziehungen zu Syrien, die die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien bereits vor geraumer Zeit angestoßen haben. Erdoğan und Kılıçdaroğlu verbinden damit gleichermaßen das Bestreben, die Rückkehr beziehungsweise die Abschiebung von Millionen syrischer Flüchtlinge aus der Türkei zu forcieren. Man werde die in Nordsyrien stationierten türkischen Truppen nicht sogleich abziehen, aber über ihren Rückzug verhandeln, kündigt ein Oppositionsvertreter an. Geplant ist demnach eine Rückkehr zum Adana-Abkommen von 1998, das es den türkischen Streitkräften erlaubt, im Kampf gegen die PKK in einem fünf Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze auf syrischem Territorium zu operieren.
Auch gegenüber Russland werden in Ankara keine nennenswerten Abweichungen von der Politik Erdoğans erwartet. Demnach würde sich die Türkei auch unter Kılıçdaroğlu weder an den westlichen Russland-Sanktionen beteiligen noch ihre Position als Vermittlerin zwischen Moskau und Kiew aufgeben, die sie heute etwa bei den Lieferungen ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer auf den Weltmarkt innehat. Kılıçdaroğlu sei nur in Detailfragen noch nicht festgelegt, heißt es – so etwa in der Frage, ob er an der Nutzung des russischen Raketenabwehrsystems S-400 festhalten oder es zugunsten der F-35-Kampfjets preisgeben solle, die Ankara in den USA gekauft hat, die Washington ihm aber unter Berufung auf die Beschaffung der S-400 vorenthält.
Dass die Opposition nicht dazu bereit sei, die Kooperation mit Russland aufzugeben, habe zum einen ökonomische Ursachen, konstatieren Experten. So ist die Türkei in hohem Maße von der Einfuhr vergleichsweise billiger Energieträger aus Russland abhängig. Auch das Atomkraftwerk Akkuyu wird – mit Rosatom – von einem russischen Konzern gebaut sowie betrieben. Türkische Konzerne nutzen die günstige Energie, um Industrieprodukte für den europäischen Markt zu fertigen. Ankara ist also auf Moskau angewiesen, zugleich aber auch auf den europäischen Absatzmarkt: von daher Kılıçdaroğlus Ankündigung, auch die Beziehungen zur EU zumindest im Stil wieder zu verbessern. Die doppelte Orientierung in Richtung Ost und West entspricht darüber hinaus einer alten Tradition der türkischen Außenpolitik, die Experten als zur Strömung der Blockfreiheit tendierend beschreiben. Selbst während des Kalten Kriegs habe sich Ankara trotz seiner NATO-Mitgliedschaft eine gewisse Eigenständigkeit gewahrt, urteilen der Publizist Onur İşçi sowie Samuel J. Hirst, Professor für internationale Beziehungen an der Bilkent-Universität in Ankara. Inzwischen knüpfe die türkische Außenpolitik wieder offen daran an.