Argumente und Fakten

Keine „innerdeutsche Grenze“

Von Klaus Emmerich

Am 16. November 2018 erschien auf den Politikseiten der UZ der Beitrag „Die Feindbilder existieren fort“. Anlass waren Veröffentlichungen über die Gesamtzahl der Toten an der Grenze zwischen DDR und BRD. Der Sender RBB hatte Zahlen einer Studie angezweifelt, die 2017 von Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) gemeinsam mit den Autoren Klaus Schroeder und Jochen Staadt vom „Forschungsverbund SED-Staat“ der Freien Universität vorgestellt worden war, und dabei – ganz der heutigen öffentlichen Sprachregelung folgend – von einer „innerdeutschen Grenze“ gesprochen. Unser Leser Dr. Klaus Emmerich, ein Völkerrechtsspezialist auf diesem Gebiet, sandte uns daraufhin einen Beitrag, in der er – den UZ-Beitrag vom 16. November ergänzend – weitere Argumente und vor allem historische Fakten anführt.

 

Träger von Rechten und Pflichten im Völkerrecht sind grundsätzlich Staaten. Jeder Staat ist durch drei Merkmale oder auch Bestandteile charakterisiert. Dabei handelt es sich vor allem um die Staatsbürger (Staatsangehörigen); die Staatsmacht (öffentliche Gewalt, Exekutive, Steuereintreibung usw. usf.) und das abgegrenzte Staatsgebiet/Hoheitsgebiet oder auch als Territorium bezeichnet.

Ich will mich auf das Letztgenannte konzentrieren. Warum? Weil die Staatsgrenze zwischen beiden deutschen Staaten, die bis zum 3. Oktober 1990 existierte, von besonderer Bedeutung war. Diese Grenze war nicht nur eine Grenze zwischen verschiedenen deutschen Staaten – der DDR und der BRD –, sondern auch eine Trennlinie zwischen dem Warschauer Vertrag und der NATO.

Die „Staatsgrenze“ muss als völkerrechtliche Kategorie angesehen werden, weil sie, wie der Name es ausdrückt, immer Staaten abgrenzt. Das Hoheitsgebiet wiederum gliedert sich in das Festlandgebiet einschließlich des Erdinnern, die Binnengewässer (die Flüsse, Kanäle, die inneren Seegewässer, die Territorialgewässer) und deren Grund und Untergrund, sowie den Luftraum über dem gesamten Festlandgebiet und allen Gewässern. Kurz: Festland und Seegewässer, das Erdinnere1 unter ihnen und der Luftraum2 über allem bilden das Hoheitsgebiet der Staaten.

Es ist in Politik und Öffentlichkeit besonders während des Kalten Krieges üblich gewesen, die Sicherungsanlagen der DDR in einem Atemzug mit dem Verlauf der Staatsgrenze gleichzusetzen. Gerade zwischen den beiden deutschen Staaten wurde entsprechend des Grundlagenvertrages (GLV) aus dem Jahre 1972 eine gemeinsame Grenzkommission gebildet, die schon vor Inkrafttreten des GLV mit ihrer Arbeit begann.

Im GLV lautete der Artikel 3: Gemäß der UNO-Charta werden die DDR und die BRD „ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und sich der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt enthalten. Sie bekräftigen die Unverletzlichkeit der zwischen ihnen bestehenden Grenze jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität.“(Gesetzblatt der DDR, Teil II; 1973, Nr. 5, Seite 25. Gleichfalls in: BGBl Teil II.1973 Seite 423)

Bereits im „Londoner Protokoll“ vom September 1944 war zwischen Großbritannien, der Sowjetunion und den USA (Frankreich kam später hinzu) der Verlauf der Demarkationslinien (DL) zwischen ihren Truppen bestimmt worden. Aus diesen DL wurden die späteren Zonengrenzen, aus denen mit Gründung beider deutscher Staaten die Staatsgrenze zwischen ihnen wurde.

In einer Erklärung der Delegationsleiter der DDR und der BRD in der Grenzkommission zum Verhandlungsprotokoll hieß es einvernehmlich unter anderem: „ … Soweit örtlich die Grenze von Festlegungen aufgrund späterer Vereinbarungen der damaligen Besatzungsmächte abweicht, wird ihr genauer Verlauf durch die Kommission an Ort und Stelle unter Beachtung aller Unterlagen festgelegt und markiert.“ Der Verlauf der Staatsgrenze in der Lübecker Bucht (Seegrenze) wurde von der Grenzkommission gleichfalls festgelegt. Beide Staaten gingen davon aus, dass die „Unverletzlichkeit ihrer Grenzen“ einvernehmliche Grenzänderungen nicht ausschloss.

Als unumstößlicher Fakt gilt: Erst am 3. Oktober 1990 um 0.00 Uhr wurde die Staatsgrenze (auch Grenze) zwischen beiden deutschen Staaten zur innerdeutschen Grenze zwischen neuen und alten Bundesländern: Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein; Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen; Sachsen-Anhalt und Niedersachsen; Thüringen und Niedersachsen; Thüringen und Hessen; Thüringen und Bayern; Sachsen und Bayern. Bis zu diesem Zeitpunkt handelte es sich um eine Grenze (Staatsgrenze) zwischen Staaten. Auch im „Gesetz über den Abbau von Salzen im Grenzgebiet an der Werra vom 3. Dezember 1984“ (BGBL. 1984, Teil I, Seite 199), das von Bundestag und Bundesrat bestätigt und damals von Bundespräsident Weizsäcker sowie von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl sowie dem Bundesminister für Wirtschaft, Martin Bangemann, unterzeichnet wurde, heißt es im § 1 Absatz 1 Ziffer 2; „Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Grenze) …“

Da die Sicherungsanlagen der DDR sich ausschließlich auf dem Hoheitsgebiet der DDR befanden, folgt, dass jegliche Gleichsetzung der Sicherungsanlagen mit dem Verlauf der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten nicht nur falsch, sondern irreführend war und bleibt. Zwischen dem Verlauf der Staatsgrenze und der Grenzsäule mit dem Staatsemblem der DDR gab es immer einen Abstand von mehreren Metern.

Am 15. Februar 1973 erklärte der damalige Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Bundestag unter anderem: „… ob es uns gefällt oder nicht, dass gegenwärtig alle entscheidenden und auf uns einwirkenden Faktoren von der Teilung Deutschlands davon ausgehen, dass aus Demarkationslinien Staatsgrenzen geworden sind …“ Der GLV „ist zwischen Gleichberechtigten ausgehandelt worden; anders hätte er nicht zustande kommen können. Und er hat weder der einen noch der anderen Seite zur Durchsetzung von Maximalpositionen verholfen. Selbstverständlich konnte es sich nur um einen Kompromiss handeln …“(Brandt: Rede vor dem Deutschen Bundestag: Erste Beratung GLV: Auszüge in: Außenpolitik der BRD, Dokumente von 1949 bis 1994. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1995, Seiten 378 f.)

Als Beispiel eines Kompromisses möchte ich das Aussehen des gemeinsam vereinbarten Grenzsteins nennen, der genau auf der eingemessenen Linie der Grenze versenkt wurde und als Signatur lediglich auf der einen Seite, der DDR zugewandten, deren Kürzel trägt. Auf der der BRD zugewandten Seite gab es nur eine leere Fläche. Nach DDR-Ansicht hätte auf beiden Seiten des Grenzsteins die Bezeichnung des jeweiligen Staates, DDR bzw. BRD, stehen müssen.

Ohne auf Details einzugehen, muss hervorgehoben werden, dass der Standpunkt der DDR zum Grenzverlauf auf der Elbe (Mitte Strom oder Mitte Talweg) selbst auf der 87. Kabinettssitzung der Bundesregierung am 6. November 1974 bestätigt wurde, (Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik VI/3 (1973/74), Seiten 832 f.)

Zusammenfassend muss festgestellt werden, wer statt Staatsgrenze/Grenze zwischen zwei deutschen Staaten den Begriff „innerdeutsche Grenze“ gebraucht, verletzt auch bundesdeutsches Recht. Es darf nicht vergessen werden, dass die Staatsgrenze auch die befreundeten Nachbarn CSSR und VR Polen völkerrechtlich trennte.

Die Staatsgrenze DDR/Polen wurde im Vertrag vom 6. Juli 1950 festgelegt und im „Zwei-Plus-Vier Vertrag“ vom 12. September 1990 ausdrücklich bestätigt.

Die Grenze um Westberlin

Die im oberen Abschnitt skizzierten völkerrechtlichen Kriterien zur Staatsgrenze haben für die Grenze um Westberlin keine Bedeutung. Das gilt gleichermaßen für den Begriff des „Innerdeutschen“.

Trotzdem möchte ich den Begriff übernehmen und auf die Grenze um Westberlin derart abwandeln, dass es sich bei dieser Grenze um eine innere Grenze der DDR handelte.

Dem Grenzverlauf um Westberlin lagen die in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts bestimmten Grenzen des Deutschen Reiches und den darauf beruhenden Sektorengrenzen der Besatzungsmächte im bereits erwähnten „Londoner Protokoll“ zu Grunde.

Wodurch unterschied sich die Grenze um Westberlin von der Staatsgrenze zwischen DDR und BRD? Man muss dem Status von Berlin (Groß-Berlin, Gesamtberlin. Hauptstadt der DDR, Westberlin, auch als Frontstadt bezeichnet) besondere Aufmerksamkeit widmen. An erster Stelle steht die Tatsache, dass das komplette Berlin, egal wie es bezeichnet wird, sich inmitten und auf dem Hoheitsgebiet der DDR befand, es Bestandteil ihres Staatsgebietes/Territoriums war.

Nach der Befreiung der Reichshauptstadt Berlin vom deutschen Faschismus im April/Mai 1945 durch die Rote Armee der Sowjetunion (Erste Belorussische Front und der Ersten Ukrainischen Front, sowie den polnischen Truppen unter Befehl General Swierczewskis) hieß es im Befehl Nr. 1 vom 28. April 1945, dass Generaloberst Bersarin zum „Chef der Besatzung und zum Kommandanten von Berlin ernannt“ wurde. Die gesamte administrative und politische Macht ging in seine Hände über.

In jedem Berliner Stadtbezirk wurden militärische (Rote Armee der SU) Kommandanturen eingesetzt und nahmen ihre Arbeit auf. Nebenbei bemerkt: Dieser Befehl Bersarins wurde mit der Proklamation Nr. 1 des Alliierten Kontrollrats vom 30. August 1945 bestätigt.

Die sich unterscheidenden Standpunkte von DDR und dem vom Magistrat von Groß-Berlin abgespaltenen Senat von Westberlin kommen im Folgenden zum Ausdruck:

Die Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 bestimmte, „die Hauptstadt der Republik ist Berlin“ (Art. 2 Absatz 2).

Die „Vorläufige Verfassung von Groß-Berlin“ des Senats vom 4. August 1950 bestimmte im Artikel 1: „(1) Berlin ist ein deutsches Land und zugleich eine Stadt. (2) Berlin ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland. (3) Grundgesetz und Gesetze der Bundesrepublik Deutschlands sind für Berlin bindend“.

In der „Anordnung der Alliierten Kommandatura Berlin“ vom 29. August 1950 hieß es lapidar unter Punkt 2.h: „Die Absätze 2 und 3 des Artikels werden zurückgestellt.“

Weil der Absatz 1 nicht zurückgestellt wurde, blieb für Westberlin der Status eines deutschen Landes und einer Stadt, erhalten.

Westberlin hatte keine Staatsbürger bzw. Staatsangehörigen, sondern „Ständige Einwohner“ mit einem „vorläufigen Personalausweis“. Der Luftraum über Westberlin gehörte trotz der drei Luftkorridore zwischen Westberlin und der BRD, zum Hoheitsgebiet der DDR. Diese „Kontrollzone“ wurde „definiert als der Luftraum zwischen dem Boden und 10 000 Fuß (3 000 m) Höhe innerhalb eines Radius von 20 Meilen (32 km) vom Alliierten Kontrollratsgebäude, in dem sich die Luftsicherheitszentrale Berlin … befindet.“ In der Luftsicherheitszentrale, die sich in Westberlin befand, waren auch Angehörige der Roten Armee (Sowjetarmee) tätig.

Eine Tatsache, die den Luftraum über Westberlin betraf, soll nicht vergessen werden: Am 9. November 1989 befand sich Bundeskanzler Kohl in Warschau. Er wollte nach Westberlin, um an einer Feier zum „Mauerfall“ teilzunehmen. Sein Regierungsflugzeug durfte nicht in Westberlin landen, sondern musste erst nach Hamburg fliegen. Dort stieg der Bundeskanzler in eine „amerikanische Militärmaschine“ um, um endlich nach Westberlin fliegen zu können. (Vgl. Horst Teltschik: 329 Tage Innenansichten der Einigung. Ein Siedler Buch bei Goldmann, 1993 S. 18)

Die Wasserstraßen und das gesamte Schienennetz in Westberlin gehörten, vereinfacht ausgedrückt, zur DDR. Es gab eine Reihe von Vereinbarungen der DDR mit dem Westberliner Senat z. B. über Gebietsaustausche, Neubau einer Schleusenkammer in Spandau, zur Ableitung und Behandlung von Abwässern aus Westberlin, Rettungsmaßnahmen an der Berliner Sektorengrenze und anderes.

Am klarsten und realitätsbezogen wird die Grenzproblematik um Westberlin im Grenzgesetz der DDR vom 25. März 1982 charakterisiert, wenn es im § 39 unter „Anwendungsregel“ heißt: „Die Bestimmungen dieses Gesetzes sind an der Staatsgrenze zu Berlin (West) entsprechend anzuwenden. Bestehende Rechte und Zuständigkeiten werden nicht berührt.“ (Gesetz über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik (Grenzgesetz) vom 25. März 1982, GBl. I Nr. 11 Seiten 197 bis 220.)

Die Benennung der „Grenze um Westberlin“ während der 41-jährigen Existenz als „Staatsgrenze der DDR“ ändert nichts an den hier skizzierten rechtlichen Fakten.

Anmerkungen:

1 Der Frage danach, wie tief das Erdinnere reicht, soll hier nicht nachgegangen werden.

2 Der Luftraum reicht an die Grenze „bis zum Weltraum“.

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"Keine „innerdeutsche Grenze“", UZ vom 21. Dezember 2018



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