Während die israelischen Angriffe auf Gaza weitergehen, will der Bundestag eine Resolution zum „Schutz jüdischen Lebens“ beschließen. UZ sprach mit Wieland Hoban, Sprecher der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“.
UZ: Wie ist die aktuelle Situation in Gaza?
Wieland Hoban: Das Gesundheitsministerium in Gaza hat bekanntgegeben, dass die Zahl der geborgenen und identifizierten Leichen die 40.000 überschritten hat. Man muss immer im Hinterkopf behalten, dass es noch viele tausend Leichen gibt, die unter den Trümmern begraben sind. In vielen Fällen wurden Menschen von den Explosionen so zerfetzt, dass nicht einmal mehr herausgefunden werden kann, ob es sich um Kinder oder Erwachsene handelt. Deswegen sollte man die 40.000 als untere Grenze der tatsächlich Getöteten betrachten. Dazu kommt, dass die Zerstörung der Lebensgrundlagen und die Hygienebedingungen zu einem immensen Sterben führen werden. Hunger und Durst breiten sich ja bereits seit Monaten aus. Es kommen Seuchen dazu, es liegt haufenweise Müll herum, der nicht entsorgt werden kann. Es gab schon vor dem Oktober des vergangenen Jahres kaum sauberes Wasser, jetzt ist es noch knapper. Nun wurde auch noch Polio festgestellt. Die israelischen Soldaten werden dagegen geimpft, die Palästinenser natürlich nicht. Eigentlich verdeutlichen diese Impfungen für die mordende Armee noch einmal den genozidalen Charakter der ganzen Operation.
UZ: Wie schätzt du die politische Stimmung in Israel derzeit ein? Dort protestieren viele Menschen aus verschiedenen Gründen gegen die Kriegspolitik …
Wieland Hoban: Die Proteste sollte man richtig einordnen. Oft geht es nicht gegen den Krieg an sich, sondern um eigene Interessen. Im Jahr nach der Wahl, lange vor dem 7. Oktober, gab es Proteste, die im Westen als Ausdruck der wehrhaften Demokratie in Israel dargestellt wurden. Sie galten aber nur der neuen Regierung. Es ging nicht um die Rechte der Palästinenser. Es ging einfach darum, dass die liberalen Freiheiten, die es hauptsächlich für die jüdische Bevölkerung gibt, nicht von religiösen Fanatikern abgeschafft werden. Es waren also keine Proteste gegen Besatzung und Apartheid, außer von einem kleinen linken Block, der von anderen Demonstranten und der Polizei meistens angefeindet wurde. Aktuell fordern viele Menschen die Freilassung der Geiseln. Sie sehen natürlich, dass die Regierung nichts dafür tut. Es gibt auch Menschen, die sagen, dass das, was gerade passiert, grausam und furchtbar ist und dass nichts davon durch den 7. Oktober gerechtfertigt ist. Aber das ist eine sehr kleine Minderheit. Eine Umfrage von Ende Mai hat ergeben, dass nur 4 Prozent der jüdischen Israelis finden, dass die Geschehnisse in Gaza zu weit gehen.
UZ: Hier in Deutschland gibt es eine längere Debatte um eine Bundestagsresolution mit der Überschrift „Schutz jüdischen Lebens“. Wie bewertet ihr das Vorhaben?
Wieland Hoban: Allgemein geht es um den Versuch, Meinungsäußerungen zum Thema Israel/Palästina einzuengen. Personen mit kritischen Haltungen sollen im wissenschaftlichen und kulturellen Bereich möglichst ausgeschlossen werden. Da geht es auch um Fördergelder. Im ersten Entwurf stand, dass der Verfassungsschutz einbezogen werden kann, um Personen zu untersuchen, bei denen ein Antisemitismusverdacht vorliegt. Bei Anträgen sollte geprüft werden, ob die Betroffenen frei von Antisemitismus nach der Definition der Bundesregierung sind. Im Grunde handelt es sich um eine Ausweitung der Prinzipien, die der Berliner Senat im Kulturbereich durchsetzen wollte. Kultursenator Joe Chialo hatte dann allerdings einen Rückzieher gemacht, nachdem es sehr deutlichen Protest von Berliner Kunstschaffenden gab, viele von ihnen jüdisch. Inzwischen wurde dieser Rückzieher wieder relativiert. Er beruhte ja nicht auf einem Sinneswandel, sondern auf rechtlichen Einschätzungen. Bei all diesen Maßnahmen bleibt die Frage, inwieweit sie juristisch durchsetzbar sind. Eine wichtige Floskel, die immer wieder auftaucht, ist zum Beispiel die Anerkennung des Existenzrechtes Israels. Es gab schon Bundespolitiker, die das zur Voraussetzung bei der Einbürgerung machen wollten. Aber es kam schnell zu Einwänden und Kritik von Juristen. Es bleibt also abzuwarten, ob dies noch verbrieft wird. De jure und de facto sind hier allerdings getrennte Fragen. Denn auch wenn es nicht im Gesetz steht, kann es durchaus vorkommen, dass Menschen mit palästinensischem oder arabischem Hintergrund beim Amtsgespräch zur Einbürgerung bestimmte Fragen gestellt werden. Es gab Fälle, bei denen diese Gespräche festgehalten wurden. Die Fragen waren sehr gründlich auf Positionierungen zu palästinensischen Organisationen sowie Israels Legitimität ausgerichtet. Das fließt alles in den Einbürgerungsprozess mit ein. Die Beamten haben durchaus einen gewissen Spielraum, um eine Einbürgerung zu sabotieren.
UZ: Und es gibt die ersten Organisationsverbote wie bei der Palästina-Solidarität Duisburg. Besteht deiner Meinung nach die Möglichkeit, dass das Verbot kassiert wird?
Wieland Hoban: Ja, durchaus. Ich habe Teile der 250-seitigen Verfügung gelesen. Die Argumente sind teilweise sehr dünn, man könnte fast sagen, assoziativ. Statt einen klaren Tatbestand zu benennen, wird eine vage Sprache verwendet, die bedrohlich klingen soll, aber wenig Konkretes zu bieten hat. Angesichts der Schwächen dieser Verbotsverfügung und auch der Art und Weise, wie die Polizei da vorgegangen ist, bin ich vorsichtig optimistisch. Auch wenn ich mich in diesen Sachen zurückhalte und die Gerichte nicht immer gerecht handeln, siehe das jüngste Urteil zum Slogan „From the river to the sea“. Es ist sehr wichtig, dass sich das Komitee gegen das Verbot gegründet hat, um öffentlich zu machen, wie hanebüchen da vorgegangen wird. Mein Eindruck ist, dass das Verbot gekippt werden wird. Wann, weiß man nicht. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam.
UZ: Wo seht ihr als „Jüdische Stimme“ in dieser Situation euren Schwerpunkt?
Wieland Hoban: Das Problem ist ja immer, dass die Demokratie in Deutschland nur bis zu einem gewissen Punkt gilt. Die Bevölkerung kann bestimmte Forderungen aufstellen. Doch es fällt der Regierung nicht schwer, diese Forderungen zu ignorieren und ihre Linie durchzusetzen. Aber natürlich müssen wir versuchen, etwas zu erreichen. Es wurde gerade eine Petition mit dem Titel „Für einen gerechten Frieden in Gaza. Waffenexporte stoppen & Hilfeblockade beenden!“ gestartet und das nicht von den üblichen Verdächtigen wie uns. Auch Organisationen wie Oxfam und die Ärzteorganisation IPPNW beteiligen sich daran. Das hat das Potenzial, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Auch der Protest auf der Straße muss weitergehen, aber wir dürfen da keine Illusionen hegen. Die Herrschenden fühlen sich derzeit nicht genötigt, Veränderungen zu vollziehen. Trotzdem bleibt Aufklärung sehr wichtig. Es gibt eine breite Masse, die nicht unterstützt, was Israel tut, aber die entweder zu ängstlich oder zu desinteressiert ist, um sich dagegen zu äußern. Das Thema darf nicht von der Tagesordnung verschwinden, auch wenn es eine gewisse Ermüdung gibt. Das ist bei jedem Krieg so, sei es in der Ukraine oder in Gaza. Wenn sich eine Regierungslinie etabliert hat, schwindet das Interesse. Die Proteste haben die Aufgabe, das Bewusstsein aufrecht zu erhalten.