Die Industriegewerkschaft Metall (IGM) hatte in der diesjährigen Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie eine fünfprozentige Lohnerhöhung mit einer Laufzeit von 12 Monaten gefordert. Nach Warnstreikaktionen von 760000 Kolleginnen und Kollegen erreichte sie zwei Nullmonate ohne Erhöhung, für Juni 150 Euro (für Azubis 65 Euro), ab Juli eine Erhöhung der Tariftabellen um 2,8 Prozent für neun Monate, ab 1. April darauf aufsetzend zwei Prozent für die nächsten neun Monate.
Der Tarifvertrag endet nach 21 Monaten am 31.12.2017 und beinhaltet eine Differenzierungsklausel. Danach kann ein Betrieb bei „unterdurchschnittlich schlechter Ertragslage“ beantragen, dass die 150-Euro-Pauschale ganz oder teilweise entfällt und die zweiprozentige Erhöhung der zweiten Stufe bis zum 30. Juni 2017 ganz oder teilweise verschoben wird.
Höhe
Die Forderung von 5 Prozent begründete die IGM aus dem verteilungsneutralen Spielraum von 2 Prozent Zielinflationsrate der EZB plus 1,2 Prozent Produktivitätssteigerung der Gesamtwirtschaft sowie einer Umverteilungskomponente von 1,9 Prozent. Letztere soll die Beschäftigten am „wirtschaftlichen Erfolg partizipieren“ (IGM), also die Beschäftigten an den von ihnen erarbeiteten Gewinnen teilhaben lassen. Verteilungsneutral bedeutet, dass die Verteilungsquote zwischen Unternehmen und Beschäftigten konstant bleibt und sich – weder durch die Produktivitätssteigerung noch die Inflation – verändert.
Im Ergebnis spricht die IGM von einer „tabellenwirksamen Entgeltsteigerung von 4,8 Prozent bis zum Ende der Laufzeit“. Das sei „eine deutliche Erhöhung ihrer Realeinkommen und damit einen fairen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg“, beurteilt Jörg Hofmann, Vorsitzender der IG Metall, das Ergebnis. Unternehmer frohlocken, bezogen auf die Laufzeit sei die Gesamtbelastung 2,45 Prozent. Kritiker Heiner Flassbeck argumentiert mit knapp über 2 Prozent in diesem, knapp darunter im kommenden Jahr.
Laufzeit
Natürlich kann man 4,8 Prozent für 21 Monate nicht mit 5 Prozent für 12 Monate vergleichen. Pressemeldungen versuchen das nahezulegen. 5 Prozent für 12 Monate jedoch hieße, am 1. April 2017 würde eine erneute, zusätzliche Erhöhung auf die 5 Prozent draufgesetzt. Jetzt ist es so, dass es nach der Erhöhung der Tariftabellen um nur 2,8 Prozent, am 1. April kommenden Jahres eine Erhöhung um 2 Prozent fix gibt. Wie sie dann zu bewerten ist, hängt von der dann existierenden Inflationsrate und dem erarbeiteten Produktivitätsfortschritt ab. Die EZB jedenfalls will zu einer 2 Prozent Inflationsrate kommen. Dann wären die fixen 2 Prozent von heute bereits von der Inflation aufgefressen. Eine erneute Forderungsdiskussion wäre dann notwendig, ist aber wegen des geschlossenen Tarifvertrages rechtlich nicht möglich.
Eine weitere Crux ist, dass zwar die Tabellenwerte um 2,8 Prozent zum 1. Juli erhöht, die Beschäftigten sie aber nicht 12 Monate, sondern nur neun Monate in ihren Taschen finden werden. Es fehlen also drei Monate lang die 2,8 Prozent. Rechnet man die 2,8 Prozent der 12 Monate auf die realen 9 Monate um, bleiben nur 2,1 Prozent in den Taschen. Geringfügig ausgeglichen wird das durch den Festbetrag von 150 Euro für Juni. Flassbeck liegt also richtig. Je nach Realeinkommen ist die Wirkung eine unterschiedliche.
Inflationsrate
Die Inflationsrate wird zurzeit mit 0,6 Prozent für 2016 angegeben. Da sieht es erst mal gut aus für die Beschäftigten, denn es bliebe ihnen eine Reallohnerhöhung von 1,4 Prozent. Nun ist die Höhe der Inflationsrate politisch festgelegt. Sie bezieht sich auf einen Warenkorb und die Gewichtung der Waren und Dienstleistungen, von denen behauptet wird, sie würden dem Verbrauch der privaten Haushalte möglichst genau entsprechen. Der Korb wird nur alle fünf Jahre an das geänderte Einkaufsverhalten angepasst.
Der tatsächliche Verbrauch eines Haushalts ist aber von den jeweiligen Rahmenbedingungen abhängig. Die Inflationsrate ist derzeit so niedrig, weil die Energiekosten (ÖL) niedrig sind. Das trifft diejenigen positiv, die pendeln müssen. Ob es beim niedrigen Ölpreis bleibt ist von Konkurrenzbedingungen in der Wirtschaft abhängig, von uns nicht beeinflussbar und kann sich jederzeit ändern. Die Wohnkosten wiederum steigen enorm, insbesondere in den Städten und liegen weit über einer Steigerungsrate von 0,6 Prozent. In Bonn sind sie durchschnittlich aufs Jahr gesehen um 2,54 Prozent gestiegen.
Kalte Progression
Tariferhöhungen beziehen sich auf Bruttolöhne. Kommt man in eine höhere Steuerstufe, kann einem ein Teil oder auch die gesamte Tariferhöhung weggesteuert werden. Die Steuerstufen müssten der Inflation angepasst werden, wie die Gewerkschaft schon lange fordert.
Berücksichtigt man die genannten Faktoren und dass die IGM noch im März die Profite der Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie 2015 auf überdurchschnittlichem Niveau kritisiert hat, kann von Umverteilung von oben nach unten nicht gesprochen werden, auch nicht von einem „fairen“ Anteil. Zumal die IGM darauf hingewiesen hat, dass die Dividenden für die Aktionäre – der ausgeschüttete Teil der Gewinne der Aktiengesellschaften – um 17 Prozent gestiegen waren.
Teil II: Differenzierung – Langfristige Strategie zur Schwächung der Gewerkschaften, erscheint in der kommenden Ausgabe.