Die Industriegewerkschaft Metall (IGM) hatte nach Warnstreikaktionen von 760000 Kolleginnen und Kollegen einen Tarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie (MuE) abgeschlossen, der zwei Nullmonate ohne Erhöhung vorsieht, dann für Juni 150 Euro (für Azubis 65 Euro), ab Juli eine Erhöhung der Tariftabellen um 2,8 Prozent für neun Monate und ab 1. April darauf aufsetzend zwei Prozent für die nächsten neun Monate. Der Tarifvertrag endet nach 21 Monaten am 31.12.2017 und beinhaltet eine Differenzierungsklausel.
Differenzierung
Dass Betriebe nach unten von der Tariferhöhung abweichen können ist der gravierendste Erfolg der Unternehmer.
1. Der Betrag, der in der Laufzeit des TVs anfällt, kann abgesenkt oder verschoben werden bei Betrieben mit „unterdurchschnittlicher, schlechter Ertragslage“ (IG Metall NRW, PM 13.5.2016). Auch wenn Voraussetzung ist, dass die Unternehmer dazu der IGM gegenüber ihre Bücher offen legen müssen (etwa Gewinn- und Verlustrechnung, Wirtschaftsprüferbericht, Steuerbilanz etc.), handelt es sich bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens ja nicht um eine „sachorientierte“ wissenschaftliche Entscheidung. Vielmehr ist sie interessengeleitet – was sowohl die Darstellung der ökonomischen Daten als auch was die durchschnittliche, bzw. die „unterdurchschnittliche“ Ertragslage betrifft.
2. Ein Teil der Beschäftigten der MuE-Industrie wird also weniger erhalten. So könne „im Einzelfall die jährliche Kostenbelastung über die Laufzeit im Volumen von über 10 Prozent gesenkt werden“, erläutert Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger seinen Mitgliedsfirmen. Dieses Geld fehlt in den Taschen der betroffenen Beschäftigten und erhöht die Gewinne ihrer Unternehmer. Es fehlt jede rechtliche Möglichkeit sich zu wehren, weil die Absenkung innerhalb eines geschlossenen Tarifvertrages erfolgt.
Die Ungleichheit der Lohnhöhe in den Betrieben steigt, das widerspricht dem Sinn der Gewerkschaften. Der Zweck des Zusammenschlusses der Beschäftigten ist es, für gleichwertige Arbeit gleichen Lohn zu erhalten. Eine solidarische Lohnpolitik droht so ausgehebelt zu werden. Das schwächt die Organisation. Zusätzlich noch wird die Strategie, den Tarifvertrag für eine gemeinsame Lohnpolitik zu stärken, von den Großbetrieben unterlaufen, die, wie z. B. Daimler, den Beschäftigte außerhalb des Tarifes 5 605 Euro auszahlen. BMW zahlt der Gehaltsgruppe 5 für das abgelaufene Jahr eine Erfolgsbeteiligung von 8 375 Euro in diesem Jahr aus. Damit werden die Beschäftigten der Betriebe gespalten und die Kampffront geschwächt.
3. Die Absenkung der Einkommen durch die Differenzierung erhöht die Gefahr, dass ein solcher Betrieb nicht in Anlagen und verbesserte Arbeitsorganisation investiert, um seine Gewinne zu erhöhen, sondern sich auf das „Zubrot“ durch die Beschäftigten verlässt. Bleibt es dabei, wird er mittelfristig im Konzert der kapitalistischen Konkurrenz nicht mithalten können. Die Arbeitsplätze sind gefährdet. Die Beschäftigten solcher Betriebe, von Sorge um ihren Arbeitsplätze getrieben, werden bei folgenden Tarifrunden kaum harte Kämpfer sein. Auch das schwächt.
Verringerung gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht
Es ist eine Aufweichung des Flächentarifvertrages, wenn nicht mehr in der Fläche für gleiche Arbeit, gleiches Geld gezahlt wird. Dieser Versuch der Spaltung der Klasse – wenn auch zunächst befristet angelegt – ist die konsequente Weiterführung der Strategie der Unternehmer, die die „Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen“ der Europäischen Kommission „Verringerung der gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht“ nennt. Bereits 1992, unmittelbar nach der Auflösung des sozialistischen Lagers, verlangten die deutschen Metall- und Elektro-Unternehmer die Revision des tariflich vereinbarten Stufenabkommens zur Anpassung der Ost- an die Westeinkommen.
Ende jenen Jahres kündigten sie den Tarifvertrag, ein bis dahin einmaliger Vorgang. Die MetallerInnen in Ostdeutschland antworteten auf diesen „eklatanten Rechtsbruch“ (IG Metall) mit fast zwei Wochen Streik. Im Kompromiss wurde die Anpassung der Einkommen um zwei Jahre hinausgezögert. Entscheidender aber war, dass die Unternehmer die „Härtefallregelung“ durchsetzten. Es war ihr Einstieg in die Absenkungstarifverträge, bei denen befristet – wenn dadurch Arbeitsplätze erhalten werden – vom Flächentarifvertrag abgewichen werden kann. Betriebliche Abweichungen, Beschäftigungssicherungstarifverträge, das „Pforzheimer Abkommen“ 2004 waren die Stationen der Unternehmer. Heute ist es die Differenzierung, von der Dulger sagt „die vereinbarte Gesprächsverpflichtung gibt uns nun die Chance, längerfristig zu einer Lösung zu kommen, die den Flächentarifvertrag nachhaltig modernisieren könnte.“
Der moderne Flächentarifvertrag – zerfleddern wollen ihn die Unternehmer – und so langfristig die Verhandlungsmacht der IG Metall untergraben. Natürlich ist es positiv, dass es gelungen ist, mit 40 Betrieben einen Tarifvertrag zusätzlich abzuschließen und mit hundert weiteren Verhandlungen laufen. Trotzdem, der Differenzierungseingriff wiegt schwerer als die unbefriedigende Einkommenserhöhung. Es stellt sich die Frage, inwieweit noch Kampfkraft mobilisiert werden konnte, nachdem sich die Tarifkommission der IG Metall auf eine Verhandlung über Differenzierung eingelassen hatte.
„Glaubt Ihr, dass es hier nur um Prozente der Lohnhöhe geht? Nie und nimmer! Es geht darum, eure Organisation, die IG Metall … in die Knie zu zwingen“, sagte Willi Bleicher, ehemaliger Bezirksleiter der IGM Baden-Württemberg, während des Arbeitskampfes 1963 in Stuttgart. Er wusste, „Es gibt kein Unternehmertum, das so brutal, so rücksichtslos um seinen Profit, um die Maximierung seines Profits in der Periode der Krise ringen wird, wie das deutsche. Kein Mittel wird ihnen zu schäbig sein, wenn es gilt den Weltmarkt zu behaupten. Und den Weltmarkt zu behaupten, das ist Wirtschaftskrieg.“ Das sehen nicht nur die Gewerkschaften anderer Länder, sondern auch deren Bourgeoisien so. Die schwere Aufgabe für uns: Die Zersplitterungsstrategie der Unternehmer in ihrer Gefährlichkeit darzustellen.