Demokratische Kontrolle statt Mietenwahnsinn • Kommunalpolitische Kolumne von Vincent Cziesla

Kein Markt für bezahlbare Wohnungen

Im Jahr 2018 lebten etwa 678.000 wohnungslose Menschen in Deutschland. Zu den besonders gefährdeten Gruppen zählen Sozialleistungsbezieher, Alleinerziehende, junge Erwachsene und zunehmend auch von Altersarmut Betroffene. Auch ganze Familien finden sich immer häufiger in den Notunterkünften wieder. Die „Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe“ schätzt, dass etwa 8 Prozent der Wohnungslosen Kinder und Jugendliche sind. Hinzu kommen Wohnverhältnisse, die an das 19. Jahrhundert erinnern: unzählige Menschen, häufig Arbeiter aus dem Ausland, die sich in Schrottimmobilien auf kleinstem Raum zusammendrängen müssen. Sie sind, genau wie die Wohnungslosen, dem Bürgertum ein Dorn im Auge. Ein ästhetisches Grausen, dem nur mit Räumung und Verdrängung aus dem öffentlichen Raum beizukommen sei. Häufig wird beiden Gruppen auch die eigentliche, „moralische“ Schuld an der eigenen Situation zugeschrieben. Auch das ist nicht neu, hatte doch schon der bürgerliche Ökonom Emil Sax 1869 erklärt, dass unter den Arbeitern „oft mehrere Familien in eine einzige Wohnung, ja, ein einziges Zimmer sich zusammen mieten – alles, um möglichst wenig für die Wohnung auszugeben, während sie daneben auf Trunk und allerlei eitle Vergnügungen ihr Einkommen in wahrhaft sündhafter Weise verschleudern“.

In der Realität sind Wohnungslosigkeit und Elendsquartiere direkte Folgen der herrschenden Wohnungsnot und eine Besserung ist nicht abzusehen. Im Jahr 2017 wurden gerade einmal 27.000 geförderte Wohnungen gebaut, viel zu wenig. Für 17,3 Millionen Ein-Personen-Haushalte gibt es in Deutschland gerade einmal einen Bestand von 5,4 Millionen Ein- bis Zweiraumwohnungen. Dieses Missverhältnis treibt die Mieten in die Höhe. Hinzu kommen Privatisierungen, Spekulationen, steigende Bau- und Bodenpreise und der massenhafte Verlust von Sozialbindungen. Ganze Stadtviertel werden luxussaniert, Wohnungen in Büros, Hotels und Luxusunterkünfte verwandelt. Die immer weiter anziehenden Mieten enteilen den Löhnen und den Sozialleistungen. Ein Anstieg der Mietschulden und eine Abnahme der Lebensqualität sind die Folge. Trotz dieser verwerflichen Entwicklung wird jeder Versuch, den Anstieg der Mietpreise auch nur zu bremsen, als „sozialistische Einmischung“ in das Eigentumsrecht zurückgewiesen. Das stimmt natürlich nicht. Mietpreisbremsen mögen den Mietern helfen können, den Kopf noch etwas länger über Wasser zu halten. Doch sie stellen nicht die „sozialistische“ Lösung des Problems dar. Die besteht im ersten Schritt in der Enteignung der großen Immobilienkonzerne und in der staatlichen, kommunalen Organisation des Wohnungsbaus. Dass es dafür nicht ausreicht, ein paar kommunale Bauunternehmen in Konkurrenz zum Privatsektor zu unterhalten, beweist die Gegenwart.

Wer heute noch behauptet, sich für den „freien Markt“ als Heilsbringer einzusetzen, der bestellt in Wirklichkeit nur das Geschäft der Miethaie. Der Markt versagt regelmäßig, wenn es darum geht, sozialen Wohnraum zu schaffen. Und in einigen Städten muss man sich fragen, ob es überhaupt noch einen Markt für bezahlbare Wohnungen gibt. Wer möchte denn ernsthaft noch von einem freien Austausch zwischen Anbietern und Nachfragenden reden, wenn Letztere völlig wehrlos und ausgeliefert sind? Wenn hunderte Leute zu Wohnungsbesichtigungen kommen und der Vermieter einem Gutsherren gleich umschwärmt werden muss? Wenn das grundsätzliche Menschenrecht auf eine Wohnung zum Privileg wird; zu einer Belohnung für Bonität und Wohlverhalten? Man hat nun lange genug zugesehen. Die Monopolisten haben den Kampf um den Wohnungsmarkt längst für sich entschieden – Zeit, ihn abzuschaffen und durch die demokratische Kontrolle des Wohnungsbaus zu ersetzen.

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"Kein Markt für bezahlbare Wohnungen", UZ vom 10. Januar 2020



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