Zu „Lohngerechtigkeit“

Kein Märchen

Die Kundgebung der Gewerkschaft NGG für „Lohngerechtigkeit“ in Dresden am 17. Juni sollte auch an den 17. Juni 1953 erinnern. Und im „Offenen Brief“ der Beschäftigten der Ernährungswirtschaft Sachsen an den Arbeitgeberverband heißt es: „Bitte begreifen Sie: Wir wohnen seit 30 Jahren im selben Land und Ihr Wohlstand ist aufgebaut auf dem Rücken der Menschen, die 1989 das Land verändert haben. Und diese gewaltige Leistung ist (…) lange Zeit nicht ausreichend gewürdigt worden.“

Wem nützt dieser Spagat zwischen Aufbegehren und Unterwerfen? Die Kapitalisten hatten zu erschrecken. Haben sie sich erschrocken? Sie bekamen vor 30 Jahren, was sie von Anfang an wollten, und sitzen fest im Sattel. Das merken sie auch daran, dass ihnen hier und da nach dem Munde geredet wird. Ist das nicht ein Schlag ins eigene Gesicht? Die Verleumdung der DDR als „Unrechtsregime“ flankiert die kapitalistische Politik und soll vom eigenen Klassenkampf, der Rechtfertigung einer Teilnahme an ihm als Subjekt ablenken. Gibt es doch noch sehr viele Erinnerungen an eine ganz andere DDR als die von der hiesigen Schreckens- und Gräuelpropaganda beschworene.

Die Kolonialpolitik gegenüber den neuen Bundesländern muss aufgegeben werden. Es ist unbedingt erforderlich, dass die Löhne nach oben hin angeglichen werden, denn in Ost und West stehen sie weit hinter den Profiten zurück. Zu Recht hat die DKP auf ihrem 23. Parteitag einen Beschluss gefasst: „Forderungen der Deutschen Kommunistischen Partei für Ostdeutschland – gegen Krieg, Armut und Demütigung“. Aber hebt die Beseitigung der „Lohnmauer“ auch die „Mauer“ zwischen Lohnarbeit und Kapital auf? Diese Mauer lässt sich nicht niederstreiken. Ist das nicht die grundlegende Erfahrung gerade der letzten 30 Jahre? Weshalb also hinter sie zurückgehen? Welches sozialpolitische Problem hat die Wiederherstellung kapitalistischer Verhältnisse an Stelle der DDR gelöst? Keines. Illusionen sind zerplatzt. Die Unsicherheit der Existenz ist an ihre Stelle getreten.

Hinter der Forderung nach „Lohngerechtigkeit“, auch Ausdruck der besonderen Misere der Gewerkschaften nach der Annexion der DDR, steckt im Kern: „Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagwerk.“ Es kann daher nur dienlich sein, auf den Rat von Friedrich Engels zu hören: „Im Wettlauf mit dem Kapital ist die Arbeit nicht nur benachteiligt, sie hat eine ans Bein geschmiedete Kanonenkugel mitzuschleppen. Und das heißt nach der politischen Ökonomie Gerechtigkeit (…). Lasst darum den alten Wahlspruch für immer begraben sein und ersetzt ihn durch einen anderen: Übergang der Arbeitsmittel – Rohstoffe, Fabriken, Maschinerie – in den Besitz des arbeitenden Volkes selbst.“ Wir wissen, dass dies kein Märchen ist. Das sollte uns im Kampf anspornen.

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"Kein Märchen", UZ vom 10. Juli 2020



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