Seit zwei Monaten ist ein Drittel Pakistans überschwemmt. Das Wasser fließt kaum ab. Die Krise hat gerade erst begonnen

Kein Land in Sicht

Die Bushaltestelle ist zum Bootsanleger geworden. Fischer aus dem Süden Pakistans sind hierhergekommen, nach Dadu, einer Kleinstadt, die normalerweise fünf Kilometer vom Ufer des Indus entfernt liegt, in der Provinz Sindh, in der die Überschwemmungen besonders verheerend sind. Die Fischer haben ihre motorisierten Holzboote mitgebracht. Damit transportieren sie Menschen nach Hause, in ihre Dörfer – so die noch über der Wasseroberfläche liegen. Im 46 Grad Celsius heißen Sommer. Sie fahren an Häusern entlang, die halb im Wasser liegen, durch Dörfer, in denen nur noch ein oder zwei Häuser stehen. In manchen leben noch ganze Familien, in anderen nur noch ein einzelner Mann, der die letzten Wertsachen bewacht. Wo vor ein paar Monaten fruchtbares Ackerland bestellt wurde, befindet sich jetzt ein See. Ein 100 Kilometer breiter See.

Diese Schilderungen von Christina Goldbaum, Korrespondentin der „New York Times“, beleuchten nur einen winzigen Ausschnitt der Katastrophe, unter der Pakistan seit diesem Sommer leidet. Und Goldbaum weiß: Mit Worten kommt man nicht weit, wenn man das ganze Ausmaß dieser real gewordenen Dystopie beschreiben möchte.
„Eines Abends liegt dein Ackerland noch direkt vor deiner Tür, deine Baumwolle ist erntereif. Ein, zwei Tage später schaust du nach draußen und befindest dich plötzlich in der Mitte eines Sees“, beschreibt Goldbaum das Horrorszenario, von dem 33 Millionen Menschen in Pakistan betroffen sind, in einem Interview mit der „New York Times“. Dörfer, die nicht von den Fluten weggespült wurden, sind von der Außenwelt abgeschnitten, Kleinstädte zu Inseln geworden. Das Wasser fließt kaum ab. Es muss abgepumpt werden, und das kann noch Monate dauern.

Die ausgefallene Ernte bedeutet Hunger. Hunger in einem Land, in dem schon in normalen Zeiten mehr als die Hälfte der unter fünfjährigen Kinder mangelernährt ist. Experten erwarten jetzt eine ein- bis zweijährige Erntepause. Betroffene sind also kurz- und mittelfristig auf Hilfe von außen angewiesen. Die kommt bislang nur spärlich an und nicht überall hin: UN-Programme sind unterfinanziert, und private Hilfsorganisationen beklagen ein niedriges Spendenaufkommen, bedingt durch multiple Krisen und rasant wachsende Lebenshaltungskosten in den meisten Ländern der Welt. Als weiteres Problem kommt die zerstörte Infrastruktur in den überfluteten Regionen hinzu. „Man kann entweder zu Hause bleiben trotz der immensen Schwierigkeiten oder versuchen, aufzubrechen und näher dahin zu kommen, wo Hilfslieferungen verteilt werden“, erläutert Goldbaum das Dilemma, in dem sich viele Überlebende der Flut befinden. Der Zugang zu sauberem Trinkwasser ist praktisch unmöglich. Selbst Wasser in Flaschen ist teilweise kontaminiert, weshalb Goldbaum und ihre Kollegen sich für ihre Reise nach Dadu noch in Karatschi mit Trinkwasser eindeckten.

Die riesigen Seen aus Regenwasser, Flusswasser des Indus und Abwässern aus der Kanalisation werden jetzt zu Brutstätten gefährlicher Krankheiten wie Denguefieber, Malaria und Cholera. Die Opfer der Flutkatastrophe stehen vor den Trümmern ihrer Existenz und kämpfen ums nackte Überleben. Das werden sie auch dann noch tun, wenn der Bootsanleger von Dadu wieder zur Bushaltestelle geworden ist.

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"Kein Land in Sicht", UZ vom 14. Oktober 2022



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