Wie schafft es die bürgerliche Gesellschaft, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die damit verbundene Privatisierung aller Gewinne den Menschen, die sie dafür als Verkäufer der notwendigen Arbeitskraft braucht, als ein gutes Geschäft für beide Seiten zu verkaufen? Was ist die Gegenleistung dafür, dass die große Mehrheit, die für die Gewinne anderer als geborenes Mitglied der Arbeiterklasse scheinbar freiwillig draufzahlt, den Kapitalismus als Gesellschaftssystem akzeptiert?
Sofern das Bürgertum dazu ohne Diktatur auskommt, wird das in allen kapitalistischen Staaten, fast unabhängig von deren Position auf der internationalen Ausbeutungsleiter, gleich bewerkstelligt. Also wird auch in Kolumbien das Lied der Demokratie gesungen, des Wechselspiels der Regierungen, die nach dem Prinzip „Ein Mensch, eine Stimme“ gewählt werden können. Die Idee kann sich in Kolumbien auf eine besondere Hartnäckigkeit ihrer Umsetzung berufen: Ein einziges Mal gab es zwischen 1953 und 1957 eine Militärdiktatur, was dem Land den falschen Ruf der „ältesten Demokratie Lateinamerikas“ einbrachte. Der seit 1948 laufende Bürgerkrieg mit mindestens 300.000 Toten, mit der höchsten Gewerkschaftermordquote aller Staaten der Welt, mit vom Militär versorgten und von den Großgrundbesitzern finanzierten Todesschwadronen und daraus folgend mit der zeitweise ebenfalls weltweit höchsten Rate an Binnenvertriebenen tat dieser Sage keinen Abbruch.
Es muss also mit der Regelmäßigkeit von Wahlen zu tun haben. Vor genau einem Jahr führte diese sogar dazu, dass erstmals seit Republikgründung 1821 eine andere Regierung an die Macht kam als eine, die entweder Kirche oder Großgrundbesitz verteidigte – oder in der Regel beide.
Der trotz Regierungsbeteiligung der Kolumbianischen Kommunistischen Partei insgesamt als gemäßigt links einzuschätzende „Historische Pakt“ von Präsident Gustavo Petro und Vizepräsidentin Francia Márquez verfügte allerdings über keine parlamentarische Mehrheit und die zu Beginn zusammengewürfelte Mehrheit mit Teilen der Liberalen und der Konservativen Partei zerfiel nach weniger als einem Jahr, als es an wirkliche Reformen ging. Der rechte Widerstand führte im April zu einer relevanten Regierungsumbildung, der die Chefs von Finanz-, Landwirtschafts-, Innen-, Gesundheits-, Wissenschafts-, Verkehrs- und Kommunikationsministerium zum Opfer fielen.
Welche Möglichkeiten die herrschende Klasse im Vorgehen gegen eine andere Verteilung des Reichtums dennoch weiterhin hat, war am 20. Juni zu sehen. Just die für die Regierung zentrale Arbeitsreform der kommunistischen Ministerin Gloria Inés Ramírez scheiterte im Vorfeld, indem sie gar nicht erst ins Parlament kommen wird. Die oppositionellen Parlamentarier nahmen mit ihrer Mehrheit an der vorbereitenden Sitzung der Kommission VIII nicht teil, sodass das notwendige Quorum nicht zustande kam. Präsident Petro will von der Verteidigung der Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter dennoch nicht absehen; die Gewerkschaftsdachverbände haben Aktionen gegen die parlamentarische Blockade angekündigt. Gewonnene Wahlen reichen in der Regel nicht; schon gar nicht in Staaten mit harten Machtstrukturen, wie sie in Lateinamerika anzutreffen sind.
Ein anderer Ausdruck des Widerstands ist das juristische Verfahren, ein in verschiedenen Ländern der Welt seit einigen Jahren in Mode gekommenes Mittel, um unliebsame Regierungen loszuwerden. Intellektuelle aus aller Welt haben bereits vor Wochen in einem Offenen Brief vor einem Lawfare-Putsch gegen Gustavo Petro durch die Staatsanwaltschaft gewarnt. Auch hier möchte die bürgerliche Gesellschaft Rechtsstaatlichkeit vortäuschen, die in der Praxis jedoch Rechtsbeugung gegen die Mehrheiten ist. Für KP-Präsident Jaime Caycedo agieren gegen Petros Regierung neben der neuen Ultrarechten Lateinamerikas die spanische Partei „Vox“ und ein Teil der Republikanischen Partei der USA als Drahtzieher einer Verbindung von Reformboykott, herbeigeführten Skandalisierungen durch Spionage gegen die Regierung bis hin zu einer Anklage gegen Petro. Die Linke sei aber gewarnt und bereit, dagegen zu kämpfen.
In diesem Szenario geht eine Meldung fast unter: Am 9. Juni unterschrieb die Regierung mit dem ELN (Nationales Befreiungsheer) einen Waffenstillstand. Er soll ab dem 3. August gültig werden. Einen Waffenstillstand – der ja kein Friedensschluss ist, wie er 2016 mit den Revolutionären Streitkräften (FARC) unterschrieben wurde – gab es mit dem ELN zuletzt unter Präsident Juan Santos 2017.
Mit der linken Regierung sieht das ELN offenbar neue Möglichkeiten, politische Ziele durchzusetzen. Bauernverbände, ethnische Gruppen, Frauen und Jugendvertreter sollen nun Initiativen vorlegen, die die dringenden Änderungen im Land vorantreiben könnten. Dazu sollen, wie bei vorangegangenen Verhandlungen, Dialogtische eingerichtet werden. Denn Regierung und Guerilla stimmen darin überein, dass Menschen aus den ländlichen Kommunen Protagonisten der am Schluss stehenden politischen Vereinbarungen innerhalb eines Friedensschlusses sein sollen. Am 25. Juli wird ein Nationales Teilhabekomitee einberufen, dem 30 Organisationen angehören sollen.
Auch der Frieden – das hat die gezielte, vor allem die politischen Punkte betreffende Nichteinhaltung der damaligen Vereinbarungen mit den FARC gezeigt – steht unter dem Vorbehalt des Agierens der Rechten; im Großgrundbesitz hat sie ihre wesentlichen Pfeiler. Umso mehr wiegt die positive Einschätzung des Präsidenten der Viehzüchtervereinigung (FedeGan), José Félix Lafaurie: „Wir werden sehen, welche Möglichkeiten der Frieden haben wird. So lange jedenfalls will ich optimistisch sein.“
Ob die kolumbianische Linke mit der über Jahrzehnte vorgetragenen Idee recht hat, dass der Rückzug der FARC bessere politische Bedingungen schafft? Dafür kann der Wahlsieg 2022 ein Indiz gewesen sein. Wenn mit dem ELN auch der letzte relevante bewaffnete Akteur der Linken eines Tages verschwunden sein wird, dürfte der Optimismus bei den Großgrundbesitzern noch wachsen – solange sie es schaffen, politische Reformen erfolgreich zu torpedieren. Deshalb wiegt die parlamentarische Niederlage so schwer.
Kein Frieden ohne Bürgertum
Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.
An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)