Später wird viel über „Strukturwandel“ gesprochen werden, über angeblich geglückten, ausgebliebenen und notwendigen. Mit dem nämlich kennt man sich aus in Gelsenkirchen, mit dem nicht geglückten vor allem. 1959 hatte die „Stadt der tausend Feuer“ knapp 390.000 Einwohner. Stahlindustrie und vor allem die Kohleförderung waren so prägend für Gelsenkirchen, dass die Stadt ohne sie gar nicht denkbar wäre. Die Fackeln, mit denen die Kokereien einst überschüssiges Koksofengas entsorgten, sind längst erloschen. Heute leben weniger als 260.000 Menschen in der „Stadt der zehntausend Gefeuerten“. 40 Prozent davon haben keine oder zu wenig Arbeit. Jeder vierte Einwohner ist auf Hartz IV angewiesen.
Geld haben hier nur wenige, viele dafür umso mehr Zeit. Am Nachmittag des 2. Septembers, einem Donnerstag, ist die Gelsenkirchener Innenstadt gut gefüllt. Die Sonne scheint endlich wieder, die letzten Tage hatte sie sich kaum blicken lassen. Teenager sind unterwegs, Familien mit Kinderwagen, viele mit solchen, in die mehrere Kinder passen. Senioren, oft paarweise. Omas mit Einkaufstrolleys und Männer in Muskelshirts schlendern oder hasten an Geschäften vorbei, die günstige Klamotten verkaufen. Nichts und niemand sieht hier nach diesen saturierten Studienräten aus, die ihren SUV ab und an mal stehen lassen, um auf ihrem maßgefertigten Fahrrad sich und der Umwelt einen Gefallen zu tun. Oder nach Kirchentagsbesucherinnen Mitte 50 im bunten Strickpullover, die Sonntags Erfüllung beim internationalen Kirchencafé finden. Oder wie irgend jemand sonst, der sein Kreuzchen am 26. September bei den Grünen setzt.
Das ändert sich schlagartig auf dem Heinrich-König-Platz. Hier tritt gleich Annalena Baerbock auf, im Rahmen ihrer Wahlkampftour durch Nordrhein-Westfalen. Vor der Evangelischen Altstadtkirche mit ihrem markanten Turm steht die runde Bühne schon, auf der die Kanzlerkandidatin der Grünen gleich zu ihren Jüngern sprechen wird. Zwei Ringe aus Absperrgittern sorgen dafür, dass aktive Mitglieder der Grünen ihr näher kommen dürfen als gemeine Wähler. Der Platz ist schon gut gefüllt. Das Publikum ist älter als der Gelsenkirchener Durchschnitt und besser gekleidet. Gebügelte T-Shirts, enge Hosen, Sneaker. Spießige bürgerliche Lässigkeit. Fast jeder fünfte Gelsenkirchener hat keinen deutschen Pass, weshalb die weitgehende Abwesenheit von Migranten auffällt. Danger Dan dringt aus den Lautsprechern, „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“. Was der wohl davon hält, hier gespielt zu werden?
300, vielleicht 400 Menschen stehen schließlich auf dem Heinrich-König-Platz, als der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende der Grünen, Felix Banaszak, zum Mikrofon greift. Er spricht vom Klimawandel, den man bekämpfen müsse, und fordert einen „anderen Politik-Modus“. Die Grünen wollten „Verantwortung übernehmen“, den „Strukturwandel besser gestalten“ und eine „Mitmachdemokratie, von der alle profitieren“. Hohle Floskeln, die weder er noch die beiden Rednerinnen nach ihm mit Inhalt füllen. Die lokale Direktkandidatin der Grünen, Irene Mihalic, löst ihn ab. Mehr Jobs seien nötig, sagt sie, das wisse man in Gelsenkirchen. Man müsse den Menschen „Würde zurückgeben“, „Integration gestalten“ und dürfe „Arm und Reich nicht gegeneinander ausspielen“. Als Banaszak seiner Parteifreundin anschließend einige Fragen stellt, erzählt er von einem Besuch bei BP Gelsenkirchen. Die Firma stellt fossile Kraftstoffe her und ist aktuell der zweitgrößte Arbeitgeber der Stadt. Ihr Mutterkonzern hatte 2004 eine Werbeagentur dafür bezahlt, den „CO2-Fußabdruck“ zu erfinden, mittels dessen der Mineralölkonzern die Verantwortung für den kapitalismusgemachten Klimawandel in die Sphäre individuellen Verhaltens abschob. Sein Gespräch mit der Firma, die sich von British Petroleum in „Beyond Petroleum“ umbenannte, ohne am umweltzerstörenden Geschäftsmodell zu kratzen, sei nur ein „scheinbarer Widerspruch“. Mihalic ergänzt: „Wettbewerbsfähigkeit“ sei ja nun „selbstverständlich“.
Großer Applaus brandet auf, als Annalena Baerbock ankommt. Sie läuft einmal um die Bühne herum, lächelt huldvoll und winkt routiniert in die Menge. Dann steigt sie die Stufen zur Bühne hinauf. Ihre Stimme hallt laut über den Platz. Fast eine halbe Stunde lang spricht sie über ihre politischen Vorstellungen. Sie schafft es, dabei nie konkret zu werden. Ein „starker Sozialstaat“ helfe durch die Pandemie. Sie wolle eine Bürgerversicherung einführen. Sie wolle Kinder in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen. Wer so wenig konkret wird, tritt seinen Zuhörern kaum auf die Füße. „Gesellschaftliche Vielfalt“ – Applaus. „Frauenrechte in Afghanistan“ – Applaus. „Keinen Rassismus“ – großer Applaus. „Erneuerbare Energien“ – ganz großer Applaus. Viele im Publikum wirken selig entrückt. China wolle in den nächsten zwei Jahrzehnten führend werden in der Industrie, sagt Baerbock heiser, das wolle doch niemand. Applaus. Fallen solche politischen Vorstellungen noch unter „Kunstfreiheit“? Nur einmal unterschätzt Baerbock die Anspruchslosigkeit ihrer Zuhörer. Als sie „der Polizei“ dankt, die sich gegen rechte Hetze engagieren würde, lachen einige im Publikum bitter auf.
Nach ihrer Rede stellt Baerbock sich Fragen aus dem Publikum. Sie verlässt die Bühne und geht ganz nah an die erste Fragestellerin heran, umringt von Medien und drei Bodyguards. Was ein kleines Land wie Deutschland denn ausrichten könne in Sachen Klimaschutz, will eine elegant gekleidete Frau wissen. Baerbock nutzt die Frage für einen weiteren Seitenhieb gegen China, überzeugt die Fragestellerin aber nicht. „Deswegen will man jetzt alles dafür tun, auf den 1,5-Grad-Pfad zu kommen, auch wenn offensichtlich ich Sie an dieser Stelle noch nicht überzeugt habe“, beendet Baerbock die Diskussion. Fortan hält sie mehr Distanz zum Publikum. Ganz zum Schluss verweist sie auf eine „mutige Minderheit“, die in der DDR für „Freiheit“ gekämpft habe. An diesem Punkt stehe Deutschland jetzt wieder. Per schnödem Kreuzchen zum antikommunistischen Freiheitskämpfer? Das kommt hervorragend an beim grünen Publikum. Baerbock macht noch Fotos mit ihren Fans, dann verschwindet sie mit ihren Personenschützern. Der Heinrich-König-Platz leert sich schnell. Viele Zuhörer waren extra für die Kanzlerkandidatin aus umliegenden Städten angereist und wollen wieder nach Hause. Das proletarische Gelsenkirchen ist ihnen doch etwas unheimlich. Strukturwandel hin oder her.