Wir schwiegen, und das Wort hing zwischen uns. Schließlich seufzte ich und wiederholte es. „Scheiße.“ Mit einem Fluch der Protagonistin, den man als resigniert interpretieren kann, aber nicht muss, endet Louise Meriwethers „Eine Tochter Harlems“.
Und zum Fluchen hat die 13-jährige Francie allen Grund. Es ist die Zeit der „Great Depression“, ihr Vater ist arm, sie ist schwarz – und ein Mädchen. Wie für alle Frauen im Kapitalismus noch eine zweite Form der Ausbeutung hinzukommt, kommt für Francie zum Rassismus noch der Sexismus hinzu – und mit ihm die sexuelle Belästigung. In Formen, die ihr in weiten Teilen des Romans, der 1970 erstmals auf Englisch erschien, noch nicht einmal auffallen. Der weiße Lebensmittelhändler fasst im Austausch für ein paar Süßigkeiten an die sich gerade entwickelnden Brüste, im Kino wird ihr unter den Rock gefasst, dafür kommt sie aber umsonst rein, und auf dem Dach des abgewrackten Mietshauses in Harlem, in dem sie mit ihrer Familie wohnt, lauern weiße wie schwarze Männer auf junge Frauen und ihre Körper. Ein Entfliehen gibt es aus dieser Situation nicht.
Meriwether gibt in ihrem Roman einen Einblick in das Leben der schwarzen Bevölkerung Harlems in den Zeiten der Großen Depression, in die Armut, aber auch in die Funken des Widerstands gegen das System, das sie in dieser Armut hält. Francies Vater ist ein sogenannter „Number Runner“, der die Tipps für die illegale Lotterie einsammelt, an der sich fast alle beteiligen. Oft genug werden dabei Tipper wie Number Runner von den Bossen weiter oben übers Ohr gehauen, werden Gewinne einbehalten und Nummern gefälscht. Und wenn mal was schief gelaufen ist mit den Schmiergeldzahlungen an die Polizei, sind es die Number Runner, die wegen illegaler Wettgeschäfte verhaftet werden – so auch Francies Vater. Dessen Traum ist es – wie auch der von Francies Mutter –, dass es das Mädchen und ihre beiden älteren Brüder mal besser haben werden. Ein Traum, der unerreichbar scheint. Doch Francie ist dickschädlig und beginnt aufzubegehren gegen die trostlose Zukunft, die ihr bevorzustehen scheint – und dagegen, sich für ein paar lausige Kekse begrabschen zu lassen: „Ich hob ein Knie und rammte es ihm zwischen die Beine … Morgen würde ich mir den Metzger vorknöpfen, mit seinem Gratis-Gammelfleisch.“
James Baldwin schreibt in seinem Vorwort zum englischen Original, es sei seines Wissens nach der erste Roman „aus dem Blickwinkel eines schwarzen Mädchens … das an der Schwelle eines furchterregenden Daseins als Frau steht“. Und Louise Meriwether weiß, wovon sie schreibt, ist der Roman der 1923 geborenen und im vergangenen Jahr 100-jährig gestorbenen Autorin, Journalistin und Aktivistin doch in Teilen autobiographisch. Ihre Familie gehörte zu denen, die sich in der „Großen Migration“ auf den Weg in den Norden machten, um Rassismus und Armut zu entkommen, und auch dort nur Rassismus und Armut fanden. Meriwether wuchs in den Straßen Harlems auf, in denen Francie ihr Leben lebt. Sie hat sich durchgesetzt, einen Schulabschluss gemacht, studiert und einen Beruf ergriffen – dieser Mut ist auch ihrer Protagonistin Francie anzumerken, die ihrer Lehrerin widerspricht, als diese sie auffordert, sich mehr Mühe zu geben im Handarbeitsunterricht, denn dann könnte sie Näherin werden. Francie möchte lieber Sekretärin werden. Die Antwort der Lehrerin offenbart die ganze Verlogenheit der rassistischen Gesellschaft, die Auswege aus dem Elend vortäuscht, sie aber gleichzeitig verbaut: „Nun, Francie, wir müssen pragmatisch sein. Für negroes gibt es in diesem Bereich nicht viele Stellen. Es ist mir ein Rätsel, warum sie Sachen unterrichten, die bei solchen wie euch nur zu Enttäuschung führen.“
Und doch liegt in dem Roman Hoffnung. Denn Francie wird sich nicht unterkriegen lassen, auch wenn ihre Erkenntnis ist: „Entweder man war ’ne Hure wie China Doll oder rackerte sich in der Wäscherei ab oder schuftete den ganzen Tag oder veranstaltete Pokerrunden oder kriegte jedes Jahr ein Kind.“
Mit „Eine Tochter Harlems“ hat Louise Meriwether dazu beigetragen, das Elend der rassistischen Gesellschaft aufzudecken, weil sie, wie Baldwin im Vorwort schreibt, „die Welt wahrheitsgemäß aus der Sicht eines schwarzen Mädchens schildert“ und damit „allen, die lesen können und über Empathie verfügen, gezeigt (hat), was es heißt, in diesem Land ein schwarzer Mann oder eine schwarze Frau zu sein“.
Und die Welt zu verstehen ist der erste Schritt, sie zu verändern.
Louise Meriwether
Eine Tochter Harlems
Rowohlt Verlag, 301 Seiten, 15 Euro