Im Jahr 1972 führte ein Beschluss der bundesdeutschen Ministerpräsidenten und des Bundeskanzlers Willy Brandt zu einer Welle von Überprüfungen bei Bewerbern für den öffentlichen Dienst und Beamten. Zur Abwehr angeblicher Verfassungsfeinde sollten „Personen, die nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten“, aus dem öffentlichen Dienst ferngehalten bzw. entlassen werden.
Solche Überprüfungen fußten auf „Erkenntnissen“ des Verfassungsschutzes. Der Erlass, die „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“ (Ministerpräsidentenbeschluss vom 28. Januar 1972) richtete sich formell gegen „Links- und Rechtsextremisten“, in der Praxis traf er vor allem Linke: Mitglieder der DKP, der SDAJ, des MSB und anderer sozialistischer und linker Gruppierungen, Mitglieder von Friedensinitiativen bis hin zu SPD-nahen Studierendenorganisationen. Ja, er traf sogar sozialdemokratische Kritiker des „Radikalenerlasses“.
„Mit dem Kampfbegriff der ‚Verfassungsfeindlichkeit’ wurden missliebige und systemkritische Organisationen und Personen an den Rand der Legalität gerückt, wurde die Ausübung von Grundrechten wie der Meinungs- und Organisationsfreiheit bedroht und bestraft“, hieß es vor vier Jahren in der nach wie vor hoch aktuellen Erklärung „28. Januar 2012: 40 Jahre Berufsverbot – Betroffene fordern: endlich Aufarbeitung und Rehabilitierung!“ (http://berufsverbote.de/index.php/erklaerung.html)
Es ging mit dem „Radikalenerlass“ um die Wiederherstellung und Festigung des inneren antikommunistischen Konsenses in der Bundesrepublik Deutschland in Zeiten außenpolitischer Entspannung, der Neuen Ostpolitik unter Willy Brandt, der Zulassung der DKP und in den öffentlichen Dienst drängender „68er“. Der Sozialdemokrat Gert Börnsen schrieb im August 1973 in „Die Zeit“ Hintergrund des „Extremistenerlasses“ und der Berufsverbotspraxis seien Klassenauseinandersetzungen in der Bundesrepublik: „Die Bedrohung der spätkapitalistischen Ordnung ist nicht durch noch so extreme rechtsradikale und neonazistische Ideologen und deren Vertreter im Staatsdienst gegeben, sondern durch ‚Linke’. Durch ‚Systemüberwinder’ usw. … Die zunehmende öffentliche Kritik an der Konzentration und Zentralisation des Kapitals, an der Monopolisierung und Oligopolisierung der Wirtschaft und die politischen Auswirkungen dieser Kritik auf Staat und Gesellschaft haben die Rechtskräfte in der BRD nervös gemacht und verschärfte Maßnahmen des Staates gegen die Kritiker fordern lassen. Für die rechten Gruppen ist die Unterdrückung der ‚systemgefährdenden’ Kritik ein machtpolitisches Problem“ (G. Börnsen: Extremisten-Erlass ein widersinniges Abkommen. In: „Die Zeit“, 24.8.1973, Nr. 35).
Die Berufsverbote waren einmalig in der Europäischen Gemeinschaft und wurden damals in internationalen Gremien als Verletzung der Menschenrechte gewertet. Im In- und Ausland formierte sich eine breite Protestbewegung.
Bis Ende der achtziger Jahre mussten sich 3,5 Millionen Bewerber für den öffentlichen Dienst auf ihre Gesinnung überprüfen lassen. In der Folge kam es zu 11 000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2 200 Disziplinarverfahren, 1 250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Diese Angaben machte die Bundesregierung gegenüber der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die 1987 die Berufsverbotspraxis verurteilt hatte. Andere Zahlen liegen nicht vor, von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen.
Als erstes Bundesland hob das Saarland den Radikalenerlass am 25. Juni 1985 förmlich auf. Weitere Bundesländer folgten oder ersetzten den Erlass durch länderspezifische Nachfolgeregelungen. Als letztes Bundesland stellte der Freistaat Bayern 1991 die Regelanfrage ein.
In den meisten Ländern wird heute eine sogenannte Bedarfsanfrage beim Verfassungsschutz durchgeführt.
Nach dem Anschluss der DDR galt ab 1990 die Überprüfungspraxis in den neuen Bundesländern.
Die Bedrohung durch den „Radikalenerlass“ gehört auch heute keineswegs der Vergangenheit an: In Bayern wird seit 1991 jeder Bewerber zum Staatsdienst in einem Fragebogen zur möglichen Mitgliedschaft in einer „verfassungsfeindlichen“ Organisation oder früheren Funktionärsposten in einer Massenorganisation der DDR befragt. Im Jahr 2004 belegten die Bundesländer Baden-Württemberg und Hessen den Heidelberger Realschullehrer Michael Csaszkóczy mit Berufsverbot, weil er sich in antifaschistischen Gruppen engagiert hatte. Erst 2007 wurde seine Ablehnung für den Schuldienst durch die Gerichte endgültig für unrechtmäßig erklärt. Er erhielt Schadenersatz und wurde in den Staatsdienst übernommen.
Aktuell blockiert der Verfassungsschutz die Einstellung des DKP-Mitglieds Kerem Schamberger an der Münchener Uni.