Der 30. Januar 1933 ist nicht der 30. Januar 2023. Es droht in Deutschland unmittelbar kein Faschismus. Die bürgerlich-parlamentarische Demokratie wird zur Zeit ausgehöhlt, aber nicht vom Sockel gestürzt wie vor 90 Jahren. Dennoch zeigt sich unter der – noch – konstitutionell ruhigen Oberfläche eine beängstigende Kontinuitätslinie zwischen diesen beiden Daten.
Der 30. Januar 1933 markiert den Endpunkt einer langen Debatte innerhalb des damaligen deutschen Großkapitals. Noch zehn Jahre vorher – als französische Truppen die Ruhr besetzten – schien ein erneuter Griff nach der Weltherrschaft undenkbar. Im Chaos der Weltwirtschaftskriege und ermutigt durch den von ihm mitfinanzierten Aufwuchs der NSDAP zur Massenpartei hatten sich die am meisten reaktionären und chauvinistischsten Teile des Finanzkapitals entschieden, nach der Niederlage 1918 erneut den Griff nach der Weltmacht zu wagen – auch im Wissen um den Preis eines noch größeren Weltenbrandes als dem von 1914 bis 1918. Vor allem dazu übertrugen sie die Regierungsgewalt an Hitler und seine Mordkumpanen. Verkündet wurde von denen dann mit Fackelzug und Getöse die „nationale Revolution“, der Bruch mit dem Friedensvertrag von Versailles und damit den bisher eher tastenden Versuchen, sich einen wieder stärkeren Platz im Konzert der imperialistischen Mächte zu sichern. Kern des schon in Hitlers „Mein Kampf“ dargelegten Programms war dabei der Krieg gegen den Bolschewismus, also die Sowjetunion mit Russland als ihrem Herzstück.
Die von Scholz vor knapp einem Jahr verkündete „Zeitenwende“ ist noch keine „nationale Revolution“. Aber sie treibt zunehmend über sich selbst hinaus. Die Ersetzung der für zu zögerlich gehaltenen Kriegsministerin durch einen rechtssozialdemokratischen Uniformliebhaber ist eine weitere Stärkung derjenigen, die erneut einen Bruch mit eher moderaten Traditionslinien des deutschen Kapitals wagen wollen – erneut mit klarem Blick auf das Risiko, einen noch größeren Weltbrand als den von 1939 bis 1945 auszulösen. Noch zögert die herrschende Klasse, noch haben sich in ihr die am meisten reaktionären und chauvinistischsten Teile nicht endgültig durchgesetzt. Aber sie liebäugeln unverkennbar damit, als Juniorpartner des US-Imperialismus und selbsternannte Führungskraft Europas den dritten Griff zur Weltmacht zu wagen. Im Zuge der Zeitenwende gewinnen die 1945 nur scheinbar gebannten Geister des deutschen Großmachtstrebens Monat für Monat mehr Oberwasser.
Politisches Abenteurertum ist blind gegenüber einer realistischen Einschätzung der Kräfteverhältnisse. Die deutschen Leoparden sind genauso wenig eine Wunderwaffe wie es die Tiger und Panther waren, die Hitler 1943 – gerade mal zehn Jahre nach seiner Kanzlerkür – mit den Worten „die besten Verbände, die besten Waffen“ an die Front schickte, um der Sowjetunion am Kursker Bogen, also nicht unweit der Ukraine, den vermeintlichen Todesstoß zu versetzen. Mehr noch als damals werden die Arme Berlins zu kurz sein, um Moskau zu besiegen. Auch neue deutsche Raubtiere aus Stahl werden bei ihrem Sprung auf die Krim nicht siegen, sondern verbrennen.
Im Januar 1933 waren der unterlegenen deutschen Arbeiterbewegung Tragik, Gefahr und gleichzeitig Idiotie der damals vollzogenen Zeitenwende genauso klar wie für realistischere Kräfte im Lager der Bourgeoisie. Das ist eine weitere Parallele zum Januar 2023 – aber diesmal muss der Marsch in den Krieg gestoppt werden, bevor es lichterloh brennt. Einen dritten Krieg gegen Russland innerhalb von 120 Jahren überlebt Deutschland nicht.