Trotz Grundrente: Zahl der Sozialhilfeempfänger steigt weiter stark an

Kein Ausweg aus der Armut

Reiner Heyse

Seit 2021 können niedrige Renten unter engen Voraussetzungen mit einem Zuschlag – der Grundrente – aufgestockt werden. Die ausgezahlten Grundrenten betrugen Ende 2022 im Durchschnitt magere 89 Euro für 1,1 Millionen Rentnerinnen und Rentner. Ursprünglich sollte es einmal für 3 Millionen Menschen Aufstockungen geben.

Haben diese Grundrenten einen Beitrag zur Verminderung von Altersarmut geleistet? Die Zahlen des Bundesamtes für Statistik (Destatis) belegen: Nein. Die Altersarmut nimmt stattdessen weiter zu.

Im März 2024 betrug die Zahl der Grundsicherungsempfänger im Alter 719.330. Das war eine Zunahme von 5 Prozent innerhalb eines Jahres. Diese Anzahl ist noch weit weg von der Realität. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hatte 2019 in einer Untersuchung festgestellt, dass 62 Prozent der Grundsicherungsberechtigten keinen Antrag auf diese Sozialhilfe gestellt hatten. Die Gründe dafür waren vielfältig und nachvollziehbar: Stolz, Scham, Ablehnung des geforderten Abbaus der Ersparnisse und des kleinlichen Kon­trollregimes. Die tatsächliche Zahl der Rentnerinnen und Rentner, die ein Einkommen unter Sozialhilfeniveau erzielen, läge demnach also bei etwa 1,8 Millionen.

Dann muss unbedingt beachtet werden: Die Armutsschwelle liegt deutlich höher als das absolute Minimum der Grundsicherung. Seit 1984 gilt in der Europäischen Union als armutsgefährdet, wer in einem Einzelhaushalt weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat. Das waren im vergangenen Jahr 1.314 Euro.

Destatis hat als durchschnittlichen Sozialhilfebedarf 938 Euro ermittelt (Regelsatz 563 Euro plus Miete und Heizungskosten). Zwischen Sozialhilfe und Armutsschwelle liegt eine Differenz von fast 400 Euro. Dass die Sozialhilfe viel zu niedrig berechnet wird, kritisieren die Sozialverbände seit Langem. Sie beanstanden, dass der zugrundegelegte Warenkorb auf angeblich geringere Bedürfnisse von armen Haushalten ausgelegt ist. Die tatsächlichen Bedarfe liegen etwa 250 Euro höher. Der Paritätische Gesamtverband berechnete für 2024 einen Regelbedarf von 813 Euro, zusätzlich kommen die Kosten für Unterkunft und Heizung von 435 Euro und individuelle Stromkosten. Im Ergebnis kommen die Sozialverbände damit auf einen tatsächlich abzudeckenden Regelbedarf, der in Höhe der Armutsgefährdungsschwelle liegt.

Die Grundrente kostet 1,1 Milliarden Euro. Im ersten Jahr betrugen die Verwaltungskosten 380 Millionen Euro, in den Folgejahren 200 Millionen Euro. Es werden also rund 20 Prozent der Grundrentenkosten für Verwaltung verbraten. Die Kosten der gesamten Rentenversicherung machen gerade einmal 1,5 Prozent der Leistungen aus. Es wird also sehr viel Geld in ein sehr komplexes Berechnungs- und Überprüfungssystem gesteckt, das minimale Verbesserungen für wenige bringt. In keinem Fall wird mit dem Aufstockungsbetrag die Armutsgefährdungsschwelle erreicht.

Im Gegenteil erzeugt das Grundrentengesetz absurde Fälle wie diesen: Rentner A. erhält eine Altersrente von 850 Euro. Für ihn wird ein Regelbedarf für die Grundsicherung von 1.008 Euro festgestellt. Er hat demnach Anspruch auf Grundsicherung. Da er mehr als 33 Jahre Beiträge geleistet hat, werden von seiner Rente durch Freibeträge nur 474,50 Euro auf die Grundsicherung angerechnet. Im Ergebnis bekommt er einen Grundrentenzuschlag von 533,50 Euro. Zur Verfügung hat er am Ende einen Nettobetrag von 1.290 Euro.

Sein Nachbar B. – ebenfalls verrentet – erhält eine Altersrente von 1.200 Euro. Damit liegt seine Rente über dem Regelbedarf und er hat keinen Anspruch auf Grundsicherung. Er erfüllt auch nicht die Bedingungen für einen Grundrentenzuschlag. Die Rentenversicherung zieht noch 11 Prozent Sozialversicherungsbeiträge ab, so dass ihm am Ende 1.068 Euro verbleiben.

Obwohl Rentner B. eine um 350 Euro höhere Rente erhält als Nachbar A,. hat er 222 Euro monatliches Einkommen weniger zur Verfügung. Das ist einfach absurd.

Statt der teuren Grundsicherungs- und Grundrentenverrenkungen liegt eine einfache und wirklich armutsvermeidende Lösung auf der Hand: Die Einführung einer Mindestrente, die stets über der Armutsgefährdungsschwelle liegt. Das wären aktuell 1.320 Euro netto.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Kein Ausweg aus der Armut", UZ vom 12. Juli 2024



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Tasse.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit