An warmen Worten hat es in Brüssel, wie bei derlei Anlässen üblich, nicht gefehlt. Von einem „guten Tag für Europa“ sprach EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Man habe gerade „einen historischen Moment“ erlebt, prahlte EU-Ratspräsident Charles Michel. Soeben hatte er bekannt gegeben, dass die Union der Ukraine und Moldawien nun offiziell den Status eines EU-Beitrittskandidaten zuerkannt hatte. „27 mal Ja!“, twitterte umgehend auch Kanzler Olaf Scholz, in den amtlichen Jubel einstimmend: „Auf gute Zusammenarbeit in der europäischen Familie!“
Wie so oft bei der EU: Der Jubel, der da am Donnerstag vergangener Woche erklang, war verlogen, von doppelten Standards gezeichnet, vielleicht sogar gefährlich. Da wäre zunächst die Tatsache, dass die Ukraine und Moldawien zu EU-Beitrittskandidaten erklärt wurden, obwohl sie die Voraussetzungen dafür auch nicht im Geringsten erfüllen. Jenseits der blechernen Jubelfanfaren gab sich auch niemand besondere Mühe, das zu verhehlen; allseits war viel von „Rechtsstaatlichkeit“ die Rede, an der Kiew in Zukunft noch fleißig zu arbeiten habe, vom Kampf gegen die Korruption, der fortgeführt werden müsse, vom entschiedenen Vorgehen gegen den beherrschenden Einfluss der ukrainischen Oligarchen. Ein EU-Bürokrat brachte die Sache gut auf den Punkt, als er trocken konstatierte, man habe der Ukraine den Kandidatenstatus zuerkannt, um ihr im Krieg gegen Russland „einen moralischen Schub“ zu verpassen. Für Moldawien, von dem einige fürchten, es könne ebenfalls angegriffen werden, falls Russland doch noch Odessa erobere – im Krieg weiß man nie –, gilt das Gleiche.
Bitter stieß der Jubel der EU andernorts auf – in Georgien, in gleich mehreren Ländern Südosteuropas. Georgien ist, was die förmlichen Kriterien für den Beitrittskandidatenstatus angeht, gewiss nicht schlechter aufgestellt als die Ukraine und Moldawien. Nur: Seine Regierung ist nicht bedingungslos prowestlich orientiert. Tiflis erhält den Kandidatenstatus deshalb, anders als Kiew, nicht. Erheblicher Unmut über die doppelten Standards der EU brach sich vergangene Woche auch in Bosnien-Herzegowina Bahn, das – fraglos besser aufgestellt als die Ukraine – seit Jahren vergeblich den Kandidatenstatus anstrebt. Wütende Äußerungen waren zudem aus Albanien und Nordmazedonien zu hören, die seit acht beziehungsweise sogar 17 Jahren offiziell Beitrittskandidaten sind, aber bis heute vergeblich auf die Einleitung von Beitrittsverhandlungen warten. Auf dem Abstellgleis urplötzlich von der Ukraine eingeholt zu werden, der der Europäische Rechnungshof noch im September 2021 bescheinigte, im Kampf gegen die im Land grassierende Korruption gar Rückschritte zu machen, kommt in Südosteuropa nicht gut an.
Hat die EU den „moralischen Schub“ für die Ukraine mit der Verfestigung des Unmuts über ihre doppelten Standards im Südkaukasus und in Südosteuropa erkauft, so ist es wohl auch nur eine Frage der Zeit, wann sich derselbe Unmut in der Ukraine sowie in Moldawien breit macht. Denn ein tatsächlicher EU-Beitritt der zwei ärmsten Länder Europas, eines noch dazu kriegszerstört, kostete immense Summen; in Zeiten, in denen der Bundesfinanzminister „fünf Jahre Knappheit“ in Aussicht stellt, birgt das, vorsichtig formuliert, Konfliktpotenzial. Davon abgesehen: Die Begeisterung darüber, der Ukraine Mitsprache in der EU einzuräumen, die schon heute nicht immer zuverlässig nach der deutschen beziehungsweise der französischen Pfeife tanzt, ist in Berlin wie auch in Paris durchaus begrenzt. Wenn sich der EU-Beitritt der Ukraine aber aus den genannten Gründen ebenso ins Nirwana verschiebt wie derjenige Nordmazedoniens oder Bosnien-Herzegowinas, dann wird auch dort die Bevölkerung irgendwann unruhig werden. Mit der Ernennung der Ukraine sowie Moldawiens zu Beitrittskandidaten hat die EU Hoffnungen geweckt, deren Erfüllung ziemlich zweifelhaft ist, und damit womöglich den Keim für Enttäuschung und künftige Konflikte gelegt.