Mehr als 27 Jahre nach der „Wiedervereinigung“ sind Ostdeutsche in Führungspositionen immer noch kaum vertreten, teilte das Bundeswirtschaftsministerium Anfang Oktober in einer Pressemitteilung mit. An wesentlichen Entscheidungsprozessen seien die Ostdeutschen in allen gesellschaftlichen Bereichen deutlich unterproportional beteiligt.
Die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke, mahnte: „Es besteht de facto eine Lücke in der Vertretung ostdeutscher Interessen, Sichtweisen und Lebenserfahrungen auf der gesamten Bundesebene.“ Es gebe keinen sachlichen Grund mehr für dieses Ungleichgewicht. Wer den Osten außen vor lasse, bekomme irgendwann die Quittung.
Gleicke hatte drei Expertenforen unterstützt, in denen sich Wissenschaftler mit den Ursachen und möglichen Folgen dieser Entwicklung beschäftigten. Fazit: Noch heute entscheiden die territoriale Herkunft und die Zugehörigkeit zu Elitenetzwerken mit über die Besetzung von Spitzenpositionen. Hierbei gebe es einen klaren strukturellen Nachteil der Ostdeutschen.
Bereits im letzten Jahr war eine vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) in Auftrag gegebene Studie der Universität Leipzig ernüchternd: „In den Bereichen Politik, Justiz, Wirtschaft und Wissenschaft, Medien und Militär besetzen Ostdeutsche gerade mal 25 bis 35 Prozent der Spitzenpositionen, in einigen Bereichen sogar nur ein Prozent.“ Mehr als die Hälfte der Staatssekretäre in ostdeutschen Landesministerien stamme aus den alten Bundesländern, bei den Abteilungsleitern seien es drei Viertel. Obwohl 87 Prozent der Wohnbevölkerung in den neuen Bundesländern Ostdeutsche seien, spiegele sich das nirgendwo prozentual wider. Dasselbe lasse sich aber auch bundesweit beobachten. Im Vergleich zu 2004 sei der Anteil der Ostdeutschen an der Elite in einigen Bereichen sogar noch zurückgegangen.
Dass man bundesweit ostdeutsche Eliteangehörige vergeblich suche, weil nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen mit Ostdeutschen besetzt seien, war für Gleicke Grund genug, dem Problem weiter nachzugehen. Die Deutsche Gesellschaft e. V. hat nun ihren Bericht „Ostdeutsche Eliten. Träume, Wirklichkeiten und Perspektiven“ vorgelegt.
Je nach Bereich werden unterschiedliche Ursachen für die Unterrepräsentanz genannt. So beruhte die Ablösung der ehemaligen DDR-Verwaltungseliten auch auf „machtpolitischen Kalkülen“, denn es bestand 1989/90 eine generelle Skepsis, inwieweit sich ehemalige Angehörige des sozialistischen Staatsapparates gegenüber der neuen Ordnung loyal verhalten würden. Die Schwemme mit Westbeamten diente gleichzeitig „als Ventil für den Personalüberhang im öffentlichen Dienst der alten Bundesländer“. Und die damals aus dem Westen in den ostdeutschen Verwaltungsdienst eingetretenen Stelleninhaber „blockieren bis heute selbst das Nachrücken einer ostdeutschen Nachwuchsgeneration“.
Ähnlich sieht es in der Wirtschaft aus. Die Hauptursache sei im radikalen Strukturwandel zu suchen, „der als Deindustrialisierung bezeichnet werden“ könne. Durch die Abwicklung der Kombinate und der Privatisierung der volkseigenen Betriebe (VEB) sei die Wirtschaft radikal umstrukturiert worden und sei seitdem überwiegend klein- und mittelbetrieblich organisiert. Viele Spitzenpositionen seien in dem Prozess weggefallen. Einer Studie aus dem Jahre 1995 zufolge waren nur 0,4 Prozent der Elitepositionen in der deutschen Wirtschaft mit Ostdeutschen besetzt, bei den Wirtschaftsverbänden habe der Anteil Ostdeutscher nur 8,1 Prozent betragen. „Diese spärlichen Anteile haben sich seitdem offenbar kaum verändert.“ Dagegen sei der Anteil von in Westdeutschland Geborenen auf Leitungspositionen in ostdeutschen Unternehmen nachweislich umso höher, je höher die Hierarchieebene sei. Dies gelte besonders für die untersuchten 100 Topunternehmen mit Hauptsitz in den ostdeutschen Bundesländern.
Als weiterer Grund wird genannt: „Die Besetzung der Elite- und Führungspositionen durch Personen aus den alten Bundesländern stellte eine restaurative Rückabwicklung der DDR-typischen Neuzugänge zur Elite dar.“ So sei der Hintergrund der Westelite mehrheitlich groß- oder gutbürgerlich, während die Eltern und Großeltern der DDR-Eliten und Experten viel öfter aus den nichtbürgerlichen und unteren Schichten stammten. Zudem seien das Selbstverständnis, ideologische Orientierung und Habitus der DDR-Funktionseliten typischerweise egalitär und anti-elitär gewesen, was sie von westdeutschen Führungskräften markant unterschieden habe. Diese „Gegenelite“ in Ostdeutschland wurde mit der „Wiedervereinigung“ ausgeschlossen und marginalisiert und mit ihr die sozialen Mobilitätserfolge der DDR.