In Hamburg kampieren Flüchtlinge im Freien, weil die ihnen zugewiesenen Unterkünfte nicht bewohnbar sind

Katastrophale Zustände

Von Birgit Gärtner

Immer wenn alle denken, schlimmer kann es nicht mehr werden, setzen der Hamburger SPD-Senat unter dem Ersten Bürgermeister Olaf Scholz und die zuständigen Behörden noch eins drauf: In einer Nacht- und Nebel-Aktion wurden am vergangenen Samstag Hunderte Flüchtlinge aus den Messehallen in andere Unterkünfte verfrachtet. Diese waren dafür aber noch gar nicht hergerichtet, und sowieso in einem Zustand, dass selbst lokale Medien Scholz „humanitäres Totalversagen“ bescheinigten.

Scholz hat mal wieder alle überrascht. Allerdings wie gewohnt nicht positiv. Der Senat wolle leerstehende Gebäude zur Unterbringung von Flüchtlingen notfalls beschlagnahmen, berichteten vergangene Woche die Medien. Wer nun jedoch dachte, nach mehr als 20 Jahren derartiger Forderungen würde der Büro-Leerstand nun endlich einer sinnvollen Nutzung zugeführt, kriegte gleich einen Dämpfer verpasst: nicht leere Bürohäuser, sondern die Lagerhallen einer pleite gegangenen Baumarkt-Kette waren Objekte der Begierde des Senats. Von Anfang an war klar, dass die Messehallen nur bis Ende September 2015 für die Unterbringung von ca. 1 000 Flüchtlingen nutzbar war. Denn im Oktober findet die „Hanseboot“ statt, eine maritime Ausstellung von internationalem Rang, die ist natürlich wichtiger als Menschen. Von Anfang war klar: es gibt keine Alternative. Bis Scholz die leerstehenden Baumarkthallen eingefallen sind. Dann ging alles hopplahopp.

Die Hallen sind zum Teil in einem miserablen Zustand, zugig und es stinkt im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel. Außerdem hinkten – wie immer in den vergangenen Monaten – die für Organisation und Logistik verantwortlichen Behörden und die Trägergesellschaft „fördern & wohnen“ den Ereignissen um Längen hinterher. In den neuen Unterkünften fehlte es an allem: Essen und Trinken, Decken, Sichtschutz und für manch einen sogar das Bett. Der Transport zog sich bis tief in die Nacht hinein. Einige Flüchtlinge sind quasi übrig geblieben, die mussten dann Sonntag selbst gucken, wie sie wohin kamen.

Kein Missverständnis, sondern gewollt. Eiskaltes Kalkül von Bürgermeister Gnadenlos, der schon in Bezug auf die Lampedusa-Flüchtlinge alles von oben zerschlagen hat, was den Betroffenen von unten an Menschlichkeit entgegengebracht wurde.

Rund um die Messehallen hatte sich eine Willkommens-Kultur entwickelt, die sehr viel auf die Beine gebracht hat, um den Flüchtlingen das Leben einigermaßen erträglich zu machen: Es wurden Spenden gesammelt, sortiert und weitergegeben, Essen und Trinken, Decken und Matratzen organisiert, gegrillt, Kuchen gebacken, Deutschkurse initiiert, Kinderprogramm und gemeinsame Feste durchgeführt, einige auf St. Pauli ansässige Lokalitäten stellen Raum als Treffpunkt für Flüchtlinge zur Verfügung, soziale und medizinische Unterstützung angeboten.

Kurzum: Es entstand ein kleines Biotop der Menschlichkeit, eine Parallelwelt. Eine Parallelwelt, die den Flüchtlingen eine Realität vorgaukelt, die es in der knallharten Wirklichkeit nun mal nicht gibt.

Das kriegten am vergangenen Wochenende die Flüchtlinge und die Ehrenamtlichen brutal um die Ohren gehauen. Nicht nur die Flüchtlinge werden hin- und hergeschoben, wie Schachbrettfiguren, und von einer desaströsen Unterkunft in die nächste verschoben, sondern die quasi über Nacht gewachsene Willkommens-Struktur in St. Pauli, die mittlerweile auch auf andere Stadtteile ausstrahlt, wird zerstört. Oder zumindest bekommt sie empfindliche Risse.

Das Ende vom Lied war, dass mehrere Dutzend Flüchtlinge in Bergedorf sich weigerten, in der ihnen zugewiesenen Halle zu übernachten und seitdem bei Temperaturen bei kurz über null Grad im Freien kampieren. Auch in anderen Unterkünften, z. B. den Zelten im Stadtteil Jenfeld, ziehen die Betroffenen es mittlerweile vor, draußen zu übernachten statt in den stickigen Gemeinschaftszelten. Angaben von Ehrenamtlichen zufolge ist ein Teil der Flüchtlinge mittlerweile in der Hungerstreik getreten, um eine menschenwürdigere Behandlung durchzusetzen.

Unterdessen tauchte eine Stellenausschreibung eines Personalvermittlers auf, der sich ansonsten mit der Vermittlung von Arbeitskräften im logistischen Bereich beschäftigt. Unter dem Stichwort „Asylantenbetreuung“ wurden Streetworker für die Betreuung der am Hamburger Hauptbahnhof ankommenden durchreisenden Flüchtlingen gesucht. Auf Nachfrage wurde erläutert, diese würden an die Deutsche Bahn ausgeliehen, Ziel sei es, das Chaos, das durch Ehrenamtliche am Bahnhof entstanden sei, in geregelte Bahnen zu lenken. (Am Hauptbahnhof gibt es seit mehreren Wochen einen ehrenamtlich organisierten Infopoint für ankommende Flüchtlinge auf der Durchreise. Darüber wird Hilfestellung aller Art organisiert, angefangen von Reiseauskünften, über Essen und Trinken bis hin zur Übernachtung in einer Moschee oder Kirche in Bahnhofsnähe. Auch diese Struktur soll nun offensichtlich zerschlagen werden.)

Nachdem einige der Ehrenamtlichen vom Infopoint am Hauptbahnhof bei dem fraglichen Personalvermittler angerufen haben, verschwand das Stellenangebot wieder. Sowohl in der Internet-Jobbörse der Arbeitsagentur als auch auf der Webseite des Personalvermittlers.

Der Landesvorstand der Partei „Die Linke“ Hamburg beschloss am vergangenen Wochenende ein Arbeitspapier, in dem zum wiederholten Male die Nutzung leerstehender Gewerbeimmobilien gefordert wird. Die Bürgerschaftsfraktion der Partei hatte schon vor geraumer Zeit einen dahingehenden Antrag eingebracht.

Allerdings werden weder Anträge noch Spendensammlungen noch Kuchenbacken die grundlegenden Probleme der Flüchtlinge lösen.

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"Katastrophale Zustände", UZ vom 2. Oktober 2015



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