Von einer Utopie zur Dystopie

Kassandra ruft

Ulrich Straeter

Im Zeitalter der Trojaner, vor denen wir alle Angst haben, sollte man sich mit der griechisch-trojanischen Mythologie beschäftigen, damit keine Irrtümer entstehen. Darin wird erzählt, dass Kassandra die Tochter des trojanischen Königs Priamos und der Hekabe sei. Ihr Bruder Paris war der Übeltäter, dessentwegen die Achäer aus Griechenland nach Troja aufbrachen, um die entführte schöne Helena zurückzuholen und gleichzeitig die Konkurrenzstadt Troja in Schutt und Asche zu legen. So berichtet der berühmte Homer, der dann in Band 2 den listigen Odysseus durch das Mittelmeer schweifen lässt. Gott Apollon gab der Schwester des Paris, also Kassandra, wegen ihrer Schönheit die Gabe der Weissagung. Als er dafür bestimmte Gegenleistungen verlangte, wies sie ihn zurecht und zurück. Das macht man (oder frau) mit Göttern einfach nicht. Er verfluchte sie und ihre Nachkommenschaft, auf dass niemand ihren Weissagungen Glauben schenken sollte. So wurde sie die tragische Heldin, die das Unheil voraussehen konnte, auch den Untergang ihrer Heimatstadt. Ungehörte Warnungen werden bis heute Kassandrarufe genannt.

Der Schriftsteller und Dramatiker Jürgen Lodemann entwickelt in Kenntnis dieser jahrtausendealten Erzählung eine Mythologie des Planeten Mars und wirft gleichzeitig den Blick in die Zukunft der Erde, der der Voraussage einer Apokalypse gleicht. Nun schwelgen Intellektuelle gern in apokalyptischen Vorstellungen, die bereits zu entsprechenden Filmen geführt haben, um ihre Untätigkeit bei den uns umfassenden Problemen auf unserem kleinen und so verletzlichen Planeten kaschieren zu können. Der Protagonist heißt Brandt, ist nicht Politiker, sondern Wissenschaftler. Er erinnert dennoch an den Bundeskanzler der alten Bundesrepublik, Willy Brandt (SPD). Der nervende Journalist wird Hecker genannt, was bei mir zu zwei Assoziationen geführt hat: einmal zum Freiheitshelden der 48er-Revolution in Baden, Friedrich Hecker. Zum anderen nach Ersetzen eine Buchstabens beim Namen in Hacker, sprich „Häcker“, was heutzutage mit den digitalen Trojanern zu tun hat. Die Trojaner waren übrigens nicht diejenigen, die sich mit List irgendwo eingeschlichen haben, sondern es waren die Griechen, die Achäer, die dies mit dem von Odysseus entworfenen Holzpferd taten. Der Begriff ‚Trojaner’ ist daher falsch, aber das nur nebenbei.

Es treten auf: Drei weitere Wissenschaftler bzw. Astronauten, ein ominöser Chinese – das muss sein, die mischen sich heutzutage in alles ein –, ein geheimnisvoller Verantwortlicher Z (wenn wir nur wüssten, wer für die Misere, in und mit der wir leben müssen, verantwortlich ist), ein Arzt und ein Whistleblower XY. Ob der vor lauter Geheimnistuerei seinen wirklichen Namen noch weiß, wissen wir nicht.

Macht nichts, Whistleblower sind gut für uns, nicht für die Mächtigen. Zwei Psychotrainer gibt es noch, moderne Folterer brauchen solche und – die Russen! Die waren ja früher immer die ersten, wenn es um Raketen, Weltraum und solche Dinge ging. Die Russen sind aber nur an ihrer Landesfahne und den Spuren ihres Kettcars im Staub des Mars für die Zuspätgekommenen zu erkennen. Sie scheinen schon wieder fort zu sein. Auf der Erde weiß niemand etwas, oder doch?

Was sehen die Astronauten auf dem Mars: Am Ende nur Unfassliches, sagt Hecker. Es bleibt eine Lücke, die größer wird, je mehr wir wissen, sagt der Astro-Physiker Feitzinger von der Universität Bochum. Der Spiegelblick kann uns nur auf uns selbst zurückwerfen und was da an Substanz vorhanden ist, zeigt die Pandemie Corona gerade. Ratlosigkeit. Hilflosigkeit. Und der liebe Gott ist tot. Hat aber auch früher schon nicht geholfen. Und war auch nicht lieb. Jahwe war ein Kriegsgott, Mars lässt grüßen.

Im vermeintlich ewigen Eis auch Plastik? Aber ja, nicht nur da. Die Erde erstickt am Kunststoff, riesige Plastikberge im Pazifik und Nanoteilchen in der Nahrung und der Muttermilch. Alles keine schönen Erkenntnisse, also denken manche darüber nach, auf einen anderen Planeten zu fliehen. Wissenschaftler suchen erdähnliche Himmelskörper. Lasst sie suchen … Noch lange werden wir keinen Planeten B finden – und wenn, dann machen wir ihn genauso kaputt wie die Erde.

Nach neuesten Erkenntnissen auch russischer und chinesischer Forscher ist zum Beispiel auf der Venus nix los, was für uns Menschen interessant sein könnte, zu viel Kohlendioxyd. Davon haben wir auf der Erde schon genug.

Doch lassen wir die Venus mal weg. Mars ist der erdähnlichste Planet im Sonnensystem. Tag und Nacht. Vier Jahreszeiten. Vieles ist da wie bei uns. Aber: Die Marshülle, von Luft will der Autor nicht reden, hat nur noch ein Hundertstel vom Druck der irdischen. Nur noch. Das war wohl mal anders. Wirft Fragen auf. Davon hat Hecker viele und Brandt kann sie beantworten. Später. Die Temperaturen liegen tief unter null Grad Celsius, fallen im Marswinter bis zur Weltraumkälte. Der Raumanzug eines Astronauten, der bei der Internationalen Raumstation einen Außenbordeinsatz unternimmt, wird auf der sonnenzugewandten Seite etwa 100°C heiß. Auf der Nachtseite der Erde wird er auf etwa minus 100°C abgekühlt. Mit solchen Temperaturen, auch höheren, wirft Wissenschaftler Brandt in Bezug auf den Mars um sich. Müssen sie dort aushalten, haben Angst, ihre Raumanzüge an scharfem Gestein zu beschädigen.

Die romanhaften Spekulationen könnten ungeheure Wahrheiten offenbaren, allzu arg für einen Planeten, der drauf und dran ist, gleichfalls zu verkommen, in geradezu martialischem Verbrennen. Ja, da denken wir an die Nevadawüste, an pazifische Inseln, die Sahara, Hiroshima, Nagasaki, Harrisburg, Windscale/Sellafield, Tschernobyl, Fukushima. Und Vandellos in Spanien im Jahr 1990, wo nichts passierte, zufällig. Was Westeuropa vernichtet hätte.

Weil Mars ist, was Erde wird. Der Kernsatz des Romans. Ständig werden auf der Erde neue chemische Substanzen gefunden und erfunden. Am liebsten welche, mit denen man als Medikament viel Geld verdienen kann. Als Konzern. Als IG-Farben und Nachfolger. Als Bayer und Monsanto. Niemand weiß, wie sehr wir unseren Planeten damit vergiften. Man ahnt es. Corona zeigt es. Pest und Cholera. Resistente Keime. Die Wunderwaffen versagen mal wieder.

Brandt: Das Inferno Erde.
Hecker: Unsere Abmachung betrifft: Mars.
Brandt: Ja. Den Erdspiegel.

Der Autor wirft die Frage auf, ob intelligentes Leben auf dem Mars, Millionen Jahre vor der Erde, möglich gewesen sein könnte. Untergegangen ist. Mars als Vorläufer der Erde, mit Wassermassen genug, mit Grundrissen und Straßen – und natürlich mit Lebewesen. Ein Anachronismus der Menschheit: Stets sucht sie nach anderem Leben im Kosmos – und wenn es dann mal da war? Dann darf es nicht wahr sein! Das Leben dort ging zugrunde. Mars wie Erde, Erde wie Mars. Das darf nicht sein. Wir sind einzigartig. Wir sind intelligent, sagen wir. Doch dann wird geschildert, wie es gewesen sein kann, wie es gewesen sein wird, wie es gewesen sein muss? Wer das sagt, kommt in Quarantäne. Der bringt eine Infektion mit, eine geistige.

Unser kleiner Pickel im Universum, die Erde, der mittlere der acht oder neun Planeten unseres Sonnensystems am Rand der Milchstraße, eine der Milliarden Galaxien – so einsam und allein, so gefährdet durch das Universum und bestimmt durch physikalisch-chemische Prozesse, bedingt durch die Sonne, die an ein Ende kommen wird und mit ihr alle Planeten. Dieser kleine blaue Planet, höchst gefährdet auch durch eine Spezies, die sich Mensch nennt. Doch die Menschheit wird den Planeten nicht vernichten, der wird sie überleben. Die Spezies rottet, wenn sie unvernünftig bleibt, zwar auch andere aus, aber dann sich selbst, da sie eine sehr empfindliche und komplizierte Spezies ist. Flechten, Gräser und Insekten werden alle Desaster auf der Erde überleben. Und vielleicht Ratten. Rattus rattus und Rattus norvegicus, die gemeine Ratte und die Wanderratte. Sie sind sehr, sehr anpassungsfähig. Viel mehr als wir. Es ist den Experten in Paris in jahrelangem Bemühen nicht gelungen, die Ratten im unterirdischen Kanalsystem auszurotten. Trotz aller modernen Gifte. Und sie tragen Flöhe, die Viren verbreiten.

Mehr soll nicht verraten werden über diesen Roman, der eine Dystopie ist und gleichzeitig Klarheiten schafft für Hoffnungen und für Aufgaben, die wir haben.

Doch nur, wenn wir auf Kassandra hören. Kassandra ruft, Kassandra warnt. Doch seit Homer wissen wir, dass sie nicht gehört wird. Ich möchte mich irren!

Jürgen Lodemann
Mars an Erde – Beschreibung eines Planeten 
Verlag Klöpfer Narr Tübingen, 2020, geb., 260 Seiten, 25,- Euro

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"Kassandra ruft", UZ vom 24. Dezember 2020



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