Fast zwei Jahre nach dem von Berlin unterstützten Umsturz in Kiew bilanzieren Experten in den an der Universität Bremen publizierten Ukraine-Analysen die Entwicklung des Landes. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Die ökonomische Lage ist desaströs. Das ukrainische Bruttoinlandsprodukt, das bereits 2014 um 6,8 Prozent eingebrochen ist, stürzt noch weiter ab; Fachleute schätzen den Rückgang im Jahr 2015 auf um die 11 Prozent. Im kommenden Jahr könne es eventuell wieder ein leichtes Wachstum zwischen einem und zwei Prozent geben, heißt es – dies aber nur dann, wenn es nicht erneut zu politischen Erschütterungen komme, etwa zu einem Bruch des Waffenstillstands im Osten der Ukraine. Dies allerdings sei ziemlich ungewiss. Ein hoher Schuldenstand belastet das Land; eine Zunahme ausländischer Direktinvestitionen halten Experten „angesichts der noch sehr fragilen Gesamtlage“ für „derzeit nicht realistisch“. „Westliche Banken“ zögen sich im Gegenteil „weiterhin eher aus dem Land zurück“. Die Entwicklung der Exporte sei ernüchternd. Während die Ausfuhren nach Russland stark eingebrochen seien, habe „der einseitig gewährte Marktzugang in die EU“ bislang nichts eingebracht; der ukrainischen Wirtschaft fehlten vor allem „in der Breite wettbewerbsfähige Produkte für den EU-Binnenmarkt“. Immerhin sei es gelungen, das Außenhandelsdefizit zu senken: Die massive Abwertung der Hrywnja habe ausländische Waren so stark verteuert, dass ihr Absatz und damit auch der Gesamtimport dramatisch eingebrochen sei und das niedrige Niveau der Exporte nicht mehr nennenswert übersteige.
Die sozialen Folgen des ökonomischen Zusammenbruchs sind verheerend. „Laut Angaben des ukrainischen Statistikamtes haben sich die Reallöhne in der Ukraine seit Ende 2013 um mehr als 30 Prozent verringert“, heißt es in den Ukraine-Analysen. Der monatliche Durchschnittslohn ist von rund 280 Euro im Jahr 2013 auf 156 Euro im Oktober 2015 gefallen. Jeder zehnte Ukrainer muss sich mit einem Einkommen unterhalb des offiziellen Existenzminimums (54 Euro) begnügen, das allerdings nach allgemeiner Auffassung auch nicht annähernd zum Überleben ausreicht. Weil die Durchschnittsrente (79 Euro) ebenfalls kein Auskommen ermöglicht, ist Erwerbsarbeit unter Rentnern verbreitet. Dabei wird arbeitenden Pensionären seit April 2015 die Rente um 15 Prozent gekürzt. Oft werden Löhne nur mit Verspätung oder gar nicht gezahlt; der Lohnrückstand hat sich im Verlauf des Jahres 2014 verfünffacht. Die Ukraine-Analysen resümieren: „Das Ausmaß der extremen Armut ist dramatisch gestiegen.“ Besonders betroffen seien neben den Rentnern „kinderreiche Familien und die ländliche Bevölkerung“.
Schwer wiegt im Alltag vor allem die dramatische Teuerung bei Nahrungsmitteln, Medikamenten, Wasser und Heizung. Offiziellen Angaben zufolge stiegen die Lebensmittelpreise im Jahr 2014 um rund 25 Prozent; dieses Jahr ist sogar ein Anstieg um 34 Prozent zu verzeichnen. „Umfragedaten weisen darauf hin, dass die Menschen ihren Konsum entsprechend verringern“, heißt es in den Ukraine-Analysen: „Es werden insgesamt weniger Obst, Fleisch, Fisch, Eier, Zucker, Milchprodukte und andere Lebensmittel konsumiert“; lediglich der Verbrauch von Brot und Kartoffeln bleibe „relativ unverändert“. „Etwa einem Drittel der Bevölkerung“ fehle „die Möglichkeit, notwendige Nahrungsmittel zu kaufen“; dabei könnten sich „Familien mit Kindern insgesamt weitaus weniger Lebensmittel pro Person leisten als Familien ohne Kinder“. Die Preise von Medikamenten und anderen Produkten der medizinischen Versorgung seien ebenfalls um mehr als 30 Prozent gestiegen. Strom und Wasser seien um 50 bis 70 Prozent teurer geworden, Gas koste mittlerweile dreimal so viel wie 2013. Im Ergebnis hätten sich „die Wohnkosten fast verdoppelt“. „Vor dem Hintergrund schleppender Reformen“, urteilt eine Expertin, „kann ein weiteres Absinken des Lebensstandards zu sozialen Spannungen im Land führen.“
Umso schwerer wiegt, dass nicht einmal die auf dem Majdan breit geforderte und von der Kiewer Umsturzregierung lautstark angekündigte Bekämpfung der Korruption wirklich Fortschritte erzielt. Staatspräsident der prowestlich gewendeten Ukraine ist ein Oligarch, der neue Ministerpräsident entstammt dem alten ukrainischen Polit-Establishment. Korruption und Nepotismus drohen breite Proteste hervorzurufen. Weniger als ein Drittel der Bevölkerung äußert noch „Vertrauen“ gegenüber Staatspräsident Petro Poroschenko; seine „Vertrauensbalance“, die statistische Differenz zwischen Zustimmung und Ablehnung, liegt noch unter derjenigen für Staatspräsident Wiktor Janukowitsch im Dezember 2013. Die „Vertrauensbalance“ für Regierung und Parlament hat sogar ein – unter Janukowitsch nie gekanntes – Langzeittief erreicht.
Zu den wenigen Institutionen, die noch über eine positive „Vertrauensbalance“ verfügen, gehören neben der Kirche (34 Prozent) vor allem die Freiwilligenbataillone (16 Prozent), also tendenziell reaktionäre und – im Falle der Bataillone – nationalistische und in Teilen faschistische Kräfte, auf denen in der prowestlich gewendeten Ukraine das letzte Vertrauen der Bevölkerung ruht.