Jürgen Neffe: Marx. Der Unvollendete, Bertelsmann, München 2017, 656 Seiten. 28,- Euro, ISBN 978–3-570–10273-2
150 Jahre „Das Kapital“, 200 Jahre Karl Marx – zur Erinnerung an beide Jahrestage in 2017 und 2018 ist eine bemerkenswerte Marx-Biografie erschienen. Ihr Autor Jürgen Neffe zeichnet das Leben des revolutionären Denkers, Demokraten und Kommunisten nach und interpretiert dessen großartiges Werk. Das geschieht dergestalt, dass uns Heutigen der Zweihundertjährige wie ein Zeit-Genosse erscheint – einer, dessen Projekt noch nicht abgeschlossen ist und weiterhin eine Herausforderung darstellt. In diesem Sinne lautet der Buchtitel: „Marx – Der Unvollendete“.
Das Besondere an dieser Marx-Biografie ist die ideologische Unvoreingenommenheit des Autors, gepaart mit der Bereitschaft, die theoretische und analytische Meisterleistung des Kritikers der politischen Ökonomie aus ihren historischen Bezügen im 19. Jahrhundert und ihren dogmatischen Verkrustungen im 20. Jahrhundert zu befreien. Jürgen Neffe kommt von den Naturwissenschaften her. Er studierte Physik und Biologie. Gearbeitet hat er als Journalist, veröffentlichte Artikel in „Die Zeit“, schrieb für das Wissenschaftsjournal „Nature“, erhielt den Egon-Erwin-Kisch-Preis, war Reporter, Kolumnist und Korrespondent beim „Spiegel“.
Es ist diese besondere Kombination von naturwissenschaftlicher Sozialisation und journalistisch-schriftstellerischem Talent, deren Einzigartigkeit den Autor und seine biografischen Arbeiten auszeichnet – nicht nur sein neuestes Werk über Karl Marx, sondern ebenso seine früher veröffentlichten Biografien (und Bestseller) über den Evolutionstheoretiker Charles Darwin und über Albert Einstein, der die Relativitätstheorie entwickelt hat.
Der Aufbau des Bandes über den „unvollendeten“, aber heute immer noch relevanten Marx und sein Werk geht chronologisch vor und ist in zwei Hauptteile gegliedert. Im ersten, der bis zur Revolution von 1848/49 reicht, werden die Trierer Kindheit und Jugend geschildert, das Studium in Bonn und Berlin, die Kölner Journalistenzeit bei der „Neuen Rheinischen Zeitung“ sowie das Exil in Brüssel und Paris. Der zweite Hauptteil betrifft die Zeit im Londoner Exil mit höchst lesenswerten Kapiteln über das Verhältnis von Marx zu Bakunin, Lassalle und zur Sozialdemokratie, über die Pariser Commune und die Internationale, über die Armut im Hause Marx sowie über den fragilen Gesundheitszustand des Hausherrn.
Um ein umfassendes Panorama der Persönlichkeit und des Werkes von Karl Marx zu schildern, hat Jürgen Neffe zahlreiche Wissenschaftsfächer und Forschungszweige erschlossen: Philosophie und Ökonomie, Gesellschafts- und Zeitungswissenschaft, Sozial- und Kulturgeschichte, die Forschungen über Exil und Migration. Er zeichnet ein lebendiges und beflügelndes Bild der Person von Marx, seiner Herkunftsfamilie und seiner Frau, der Schwiegereltern, seiner Töchter, seiner Freunde, Lehrer und geistigen Wegbereiter, seiner politischen und Zeitgenossen, insbesondere von Friedrich Engels, sowie seiner Kontakte zur Arbeiterbewegung.
Neben der Person und ihren biografischen Spuren steht das zusammen mit Engels geschaffene Lebens- und Arbeitswerk im Mittelpunkt der Biografie: die philosophischen Schriften, die journalistischen Arbeiten, das „Kommunistische Manifest“, die Lehrschriften und agitatorischen Pamphlete, die Erarbeitung des politisch-historischen, wirtschaftstheoretischen, industrie- und handelsgeschichtlichen Materials und Wissensstandes seiner und der heutigen Zeit, schließlich die Niederschrift der „Grundrisse“ und die „Kritik der politischen Ökonomie“. Neffe zeichnet auf fesselnde Weise die intellektuelle Entwicklung nach, die von den Frühschriften über Entfremdung und Ausbeutung bis zur Kritik der politischen Ökonomie und der Analyse der Krisen des Kapitalismus geführt hat.
Auf der Grundlage seiner umfassenden, mehrdimensional und interdisziplinär angelegten Marx-Biografie schlägt Jürgen Neffe den Bogen zur Gegenwart des heutigen Kapitalismus und neoliberalen Imperialismus. Ein eigenes Kapitel erklärt und interpretiert „Das Kapital“, das Hauptwerk von Marx. Jürgen Neffe wagt es in diesem Zusammenhang, den Bezug zum 21. Jahrhundert und zum „Postkapitalismus“ herzustellen. Dem Autor gelingt eine lesenswerte, souverän vollzogene und überzeugende Verknüpfung von Marxscher Kapital-Analyse unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts einerseits und den Krisen, Bankenpleiten, der Naturzerstörung und Profitmacherei sowie den Kriegen im gegenwärtigen 21. Jahrhundert andererseits.
Marx war – gegen alle heute kaum noch vorstellbaren politischen Widrigkeiten seiner Zeit, trotz seiner Armut und seines schlechten Gesundheitszustandes – zäh und selbstbewusst der Entzauberung des Kapitals verpflichtet und vertraute auf eine kommunistische Gesellschaftsperspektive. Jürgen Neffe hat darüber ein ungemein lesenswertes Buch geschrieben. Es macht Marxens Theorie und abstraktes Denken ebenso wie sein politisches Engagement verständlich und auf erhellende Weise nachvollziehbar.
Diese aktuelle Marx-Biografie „links“ liegen zu lassen und tot zu schweigen, war selbst dem neoliberalen Mainstream nicht möglich. Kurz nach dem Erscheinen wurde der 650-Seiten-Band für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis der Frankfurter Buchmesse nominiert – und das, obwohl die Veröffentlichung keinen Abgesang auf den Sozialismus anstimmt, keinen Verriss der Marxschen Theorie vornimmt und keine abschätzige Leichfledderei betreibt.