9. Oktober 1918: Im Düsseldorfer „Stahlhof“ planen Industrielle einen Deal mit den Gewerkschaften

Kapitalvertreter suchen nach „Rettung“

Von UZ

Im Laufe des Jahres 1918 wurde die Lebenssituation für viele Arbeiterfamilien im deutschen Kaiserreich zunehmend unerträglich. Überstunden, Nacht- und Wochenendarbeit wurden zur Regel. Da die Mehrheit der männlichen Arbeitskräfte eingezogen worden war, traten Frauen an ihre Stelle. In Berlin betrug ihr Anteil in der Industrie zum Beispiel im Jahr 1918 etwa 63 Prozent, im Krupp-Konzern lag der Anteil von Frauen an der Belegschaft am Kriegsende bei über 37 Prozent. Der Frauenanteil in den Gewerkschaften erhöhte sich während des Krieges von 8 auf 35 Prozent.

Doch obgleich die Frauen weitaus mehr Lohn als vor Beginn des Krieges erhielten, war das immer noch nur die Hälfte der Männerlöhne und reichte nicht zum Leben. Hinzu kam die weitere Rationierung der Nahrungsmittel. In Berlin wurden im Januar 1918 pro Kopf Fleisch im Umfang etwa eines Schnitzels und etwa 50 Gramm Fett pro Woche ausgegeben, Brot in einer Menge von drei Scheiben pro Tag. Im Mai kürzte das Reichsernährungsamt die tägliche Brotration auf 130 Gramm. Die hohen Preise auf dem Schwarzmarkt konnte keine Arbeiterfamilie bezahlen. Viele andere notwendige Mittel zum Leben – Kleidung, Schuhe – standen kaum noch oder gar nicht mehr zur Verfügung. Alle Kräfte wurde auf die Rüstungsindustrie und die Versorgung des Heeres konzentriert. Während die Profite der Rüstungskonzerne stiegen, gingen viele kleinere und mittlere Betriebe – vor allem in der Nahrungsgüterproduktion und der Textilwirtschaft – bankrott.

Erste Proteste gegen den Hunger hatte es bereits 1915 gegeben. Vor allem die Streiks im Jahr 1917, die Januarstreiks 1918 und die auch im Sommer wieder aufflammenden Streikaktionen in vielen Regionen des deutschen Kaiserreiches beunruhigten zunehmend die Vertreter des Großkapitals. Die Drohung, streikende Arbeiterinnen und Arbeiter zu bestrafen bzw. die Männer zum Militärdienst einzuziehen, griff nicht mehr. Auch in Deutschland nahmen im Heer Desertionen und Meutereien zu. Intensiv suchten die Kapitalvertreter, als auch das deutsche Kaiserreich Ende September, Anfang Oktober 1918 in eine revolutionäre Krise geriet, nach einer Lösung in ihrem Interesse.

Munitionsfabrik 1916: Immer mehr Frauen mussten auch in den Betrieben der Rüstungsindustrie die einberufenen Männer ersetzen.

Munitionsfabrik 1916: Immer mehr Frauen mussten auch in den Betrieben der Rüstungsindustrie die einberufenen Männer ersetzen.

( Unbekannt / Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE)

Am 9. Oktober 1918 trafen sich im Düsseldorfer „Stahlhof“ führende Vertreter der Schwerindustrie des Ruhrgebiets, um die im Kaiserreich eingetretene – für die Herrschenden hochgefährliche – politische Situation einzuschätzen. Die Kapitalvertreter waren sich darin einig, dass sich die gerade erst eingesetzte Regierung Max von Baden höchstens noch vier bis fünf Wochen behaupten würde. Von dieser Regierung könne man keine Hilfe erwarten. Ihnen war klar, dass eine Revolution wie in Sowjetrussland drohte. Wie könnte man diese noch verhindern?

Dr. Reichert, der Geschäftsführer des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, erinnerte sich: „Tatsächlich war die Lage schon in den ersten Oktobertagen klar. Es kam darauf an: Wie kann man die Industrie retten? Wie kann man auch das Unternehmertum vor der drohenden, über alle Wirtschaftszweige hinwegfegende Sozialisierung, der Verstaatlichung und der nahenden Revolution bewahren?“ Das Konzept, auf das man sich einigte, schien mit Blick auf den Einfluss der rechten Gewerkschaftsführer und der Mehrheitssozialdemokraten auf die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Betrieben, den „überragenden Einfluss“ der „organisierte(n) Arbeiterschaft“, Erfolg versprechend. Laut Reichert zog man auf der Beratung den Schluss, dass es inmitten „der allgemeinen großen Unsicherheit, angesichts der wankenden Macht des Staates und der Regierung, … für die Industrie nur auf Seiten der Arbeiterschaft starke Bundesgenossen“ gäbe, die Gewerkschaften. „…Wenn in dieser großen Masse der organisierten Arbeitnehmer der Gedanke der Zusammengehörigkeit, der Solidarität mit den Unternehmern für die großen wirtschaftspolitischen Fragen erweckt werden kann, dann – so schien es – ist ein Weg vorhanden, auf dem man künftig zum Besten der deutschen Industrie weitergehen kann, dann ist eine Aussicht auf Rettung.“ (Zitiert nach: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 3, Berlin 1966, S. 469/470)

An diesem 9. Oktober 1918 wurde Hugo Stinnes von den im „Stahlhof“ tagenden Ruhrindustriellen offiziell beauftragt, mit den Gewerkschaftsführern in Kontakt zu treten. Die Gewerkschaftsverbände nahmen das Angebot der Kapitalvertreter an. Am 18. Oktober 1918 erkannten als erste Montan-Industriellengruppe die Unternehmer des westfälischen Steinkohlebergbaus die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterklasse an und erklärten sich zu Verhandlungen über Lohn- und Arbeitsfragen bereit.

Das später folgende „November-Abkommen“ (Stinnes-Legien-Abkommen, Arbeitsgemeinschaftsabkommen) diente in der Revolution dann auch dazu, den Einfluss der radikalen Arbeiter-und-Soldaten-Räte einzudämmen. Die Gewerkschaftsführung bezeichnete das Abkommen als Erfolg ihrer Burgfriedens- und Klassenkooperationspolitik im Kriege. „Die im Arbeitsgemeinschaftsabkommen erreichten Zugeständnisse waren jedoch Ergebnisse des revolutionären Drucks.“ (Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Hrsg. Frank Deppe, Georg Fülberth und Jürgen Harrer, Köln 1989, S. 177)

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"Kapitalvertreter suchen nach „Rettung“", UZ vom 19. Oktober 2018



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