Je länger die Ereignisse von Köln zurückliegen, desto mehr Menschen gehen davon aus, gesichertes Wissen über die Vorgänge zu haben, und desto weniger sicher ist unbefangenen BeobachterInnen, was dort wirklich geschehen ist. Sicher ist nur eins: es gibt einen anschwellenden rassistischen Hassgesang derer, die meinen, sich nun keinerlei Zurückhaltung mehr auferlegen zu müssen. Die Stichworte dazu kamen, kommen von Oben. So etwas geschieht nicht zum ersten Mal. Wir sollten auf öffentlicher und unabhängiger Prüfung der Ereignisse bestehen.
In der Neujahrsnacht sind vor dem Kölner Hauptbahnhof und am Dom unbekannt viele Menschen von meist männlichen Jugendlichen und Erwachsenen mit Silvesterfeuerwerk und Böllern beschossen worden. Es kam zu Anrempelungen, Schubsereien, Diebstählen, Raub. Es sollen sich Gruppen von Angreifern um Attackierte herum gebildet und sie gemeinsam belästigt haben. Dabei kam es nach Berichten auch zu körperlichen Angriffen und sexuellen Übergriffen auf Frauen, die nach der derzeitigen Informationslage in zwei Fällen zu Vergewaltigungen geführt haben. Die anwesenden Polizeikräfte sollen völlig überfordert gewesen sein, schritten jedenfalls nicht effektiv ein. Zum jetzigen Zeitpunkt berichtet die Polizei von über 900 Anzeigen, die nun in rascher Folge erstattet wurden. Es habe einige Festnahmen gegeben. Mehrere der Festgenommenen werden polizeilich als „bekannte Intensivtäter“ bezeichnet, leben also schon länger in Köln und Umgebung.
Die polizeiliche Darstellung dieser Ereignisse ist widersprüchlich und hat sich nach den Ereignissen drastisch gewandelt. Zu Neujahr 2016 hieß es im offiziellen Polizeibericht noch, der Übergang ins neue Jahr sei friedlich verlaufen. Nach Medienberichten, die ab dem 2. Januar in rascher Folge die oben geschilderten Ereignisse immer drastischer darstellten, schien bald klar zu sein: zig, nein Hunderte, nein mindestens tausend, nein 1 500 oder 2 000 Männer, und zwar zweifelsfrei vor allem „Nordafrikaner und Araber“, darunter möglicherweise viele Flüchtlinge, mithin natürlich mehrheitlich Muslime, zugleich alkoholisiert, hätten am Kölner Hauptbahnhof massenhaft Frauen belästigt. Es entstand der Eindruck einer Art Massenvergewaltigung durch, wie es BILD vorbehalten blieb zu formulieren, einen „Sex-Mob“.
Die ersten Berichte über diese derzeit fast allgemein akzeptierte Lesart der Ereignisse stammt anscheinend von der Facebookseite „NETT-Köln“ Diese Seite war schon vor dem 31.12.2015 dafür bekannt, dass sich dort rassistische Postings immer wieder breitmachen konnten.
Erst am 5. Januar tauchte dann bei Spiegel-Online die Schilderung der Ereignisse auf, wie sie aus „internen“, ja „privaten“ Aufzeichnungen von Bereitschaftspolizisten vor Ort entstammen sollen. Nun erst, vier Tage nach den Ereignissen, schien es damit auch plötzlich polizeiliche Einschätzungen der Lage vor Ort zu geben, die den Medienberichten seit dem 2. Januar Recht gaben.
Wie belastbar diese Aufzeichnungen sind, ist noch völlig unklar. An dem einen Beispiel, angeblich von „Syrern“ zerrissene Aufenthaltsdokumente, von dem im „internen Bericht“ die Rede ist – in Wahrheit handelt es sich dabei um unzerreißbare, EC-ähnliche Plastikkarten, wie eine Nachrecherche des Deutschlandfunks mittlerweile ergab – wird deutlich: es wird genau zu prüfen sein, wann und von wem diese „internen“ Aufzeichnungen angefertigt wurden und warum sie nicht am 1. oder 2. Januar, sondern erst drei Tage später veröffentlicht wurden. Denn dass dieses Dokument quasi zufällig erst Tage später ans Licht gekommen sein soll, ist vor dem Hintergrund der eskalierenden öffentlichen Diskussion schwer vorstellbar.
Auch überraschend vieles andere ist bis heute nicht klar. Wie viele Menschen befanden sich wann im Bereich Hauptbahnhof/Domplatte, wie viele waren Täter, wie viele Opfer? Geht man vom Augenschein veröffentlichter Videobilder aus, könnten sich ca. 1 000 Personen auf dem Platz befunden haben. Dabei hat es weit über 900 Strafanzeigen gegeben? Es muss geklärt werden, wie es zu solchen Zahlenverhältnissen bei behaupteter gleichzeitiger polizeilicher Unfähigkeit kommen kann, etwas dagegen zu unternehmen.
Wenn man Augenzeugenberichte liest, stellt sich die Frage: Waren alle Frauen alleine unterwegs? Hat sich niemand gewehrt? Hat niemand eine Schlägerei angefangen? Ist ein solches Szenario – hunderte Frauen werden von hunderten Männern in kurzer Zeit auf engem Raum schwer sexuell belästigt – ohne Massenschlägerei vorstellbar?
Wer waren die Täter und woher kamen sie? Wie kam es zu der frühzeitigen Behauptung, es habe sich bei ihnen um „Nordafrikaner und Araber“ gehandelt? Wo sind die Belege für eine bundesweite Koordination der Verbrechen?
Wie kam es zur Entscheidung, eine bereitstehende polizeiliche Reservehundertschaft aus Duisburg nicht einzusetzen, obwohl diese das von sich aus angeboten haben soll? Woher wusste diese Einheit überhaupt von der zeitgleichen Lage in Köln?
Wie zu hören ist, wertet die Polizei derzeit neben zahlreichen privaten Videoaufnahmen auch 350 Stunden Material von verschiedenen Überwachungskameras aus. Hierzu wurde nun Scotland Yard um Hilfe gebeten.
Wie kam es zu der zunächst völlig anderslautenden Einschätzung der Ereignisse durch die Polizei am 1. Januar?
Das alles und mit Sicherheit viele weitere Fragen müssen geklärt werden, bevor eine ernst zu nehmende politische Bewertung der Vorgänge erfolgen kann. Dass in weiten Teilen der öffentlichen Diskussion weitreichende Schlussfolgerungen aus den Ereignissen gezogen werden, ohne dass ein abgesichertes Bild der Ereignisse vorliegt, verwiest auf eine gesellschaftliche Energie, die sich aus ganz anderen, trüben Quellen speist, als Empörung über die Ereignisse von Köln.
Dem allen sollte seitens der Linken im Land energisch und zäh auf den Grund gegangen werden.
Die Stimmung kippt: Stunde der Heuchelei und Hetze
Die Veröffentlichung des so bezeichneten „internen Einsatzberichts“ am 5. Januar markiert eine Grenze in der Diskussion entscheidender staatlicher Funktionsträger, begleitet vom größten Teil der Medien, die spätestens jetzt auf den mainstream der Diskussion in den social media einschwenkten. Mit der Versetzung des Kölner Polizeipräsidenten in den Ruhestand bekam die heute fast allgemein geglaubte Variante des Ablaufs der Ereignisse quasi einen amtlichen Wahrheitsanspruch. Hierzu paßt, was Innenminister Jäger aus dem NRW-Innenausschuß am Nachmittag des 11. Januar vortrug. Damit ist die weitere Diskussion vorgezeichnet. Sie geht seither von etwas aus, das, siehe oben, keineswegs sicher belegt ist, ja derzeit sogar noch gar nicht sicher sein kann.
Diese Darstellung diente sofort weiteren sehr realen Schritten. Mit ihr kippte die Stimmung gegenüber Flüchtlingen im Land – und um dieses Thema geht es die ganze Zeit bei der Diskussion der Ereignisse ja eigentlich.
Teile der Herrschenden nutzten die Gunst der Stunde, um nun mit allem Möglichen und Unmöglichen durchzuziehen, was schon länger auf dem Wunschzettel stand. Die öffentliche Diskussion war einige Tage lang von schäumendem Rassismus und Nationalismus einerseits, mindestens partieller Unfähigkeit zu adäquater Reaktion der Linken andererseits gekennzeichnet. Der innere und der äußere Feind steht fast allen klar vor Augen: es ist der Kulturfremde, der Nicht-Deutsche, der Moslem, dem alles, sogar Übergriffe auf „unsere [besitzanzeigendes Fürwort!] Frauen“ zuzutrauen ist. Es geht nicht um Klassenkampf, sondern um die Abwehr des Bösen aus der fremden Religion, Nation, Kultur.
Nun schlug auch die Stunde patriarchaler GenderaktivistInnen und einer Reihe von „Feministinnen“ von Rechts: Alice Schwarzer, Kristina Schröder Erika Steinbach und so weiter hatten es schon immer gewußt. „Wieviel Islam steckt in der Vergewaltigung?“ wollte die ehemalige Bundesfamilienminsterin in der Sonntags-FAZ wissen. Wieviel christliches Abendland in Holocaust und Atombombe steckt, hat die notorisch evangelikale Fundamentalistin natürlich noch nie gefragt. Der Sexismus von RDCS-und JU-Plakaten, die Propaganda für‘s lustige Frauenbegrabschen in Flyern zum Kölner Karneval 2016, die seinerzeit erfolgte Ablehnung eines Straftatbestandes der Vergewaltigung in der Ehe durch Vertreter der klerikal-konservativen Rechten wie Steinbach und Seehofer – kein Thema für Schwarzer und Schröder.
Ihnen, und erst recht der neofaschistischen Rechten von AfD und PEGIDA bis zur NPD („Genderwahnsinn“) geht es in Wahrheit nicht um ein egalitäres und antipatriarchales Rollenverständnis für Frauen und Männer. Es geht ihnen mit sex and crime, der klassischen Mischung für gesteigerte emotionale Aufmerksamkeit, um die ablenkende Ethnisierung und Kulturalisierung sexueller Gewalt („triebgesteuerte junge Muslime“), keineswegs um sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen ausnahmslos und überall. Andreas Kemper weist aktuell darauf hin: heute würden 17 Prozent Männer und nur zwei Prozent Frauen AfD wählen. Letztere wissen, warum.
Gemeinsam mit dem gegen diese bodenlose Heuchelei formulierten Aufruf „Ausnahmslos“ ist jetzt eine gesellschaftliche Offensive gegen sexualisierte und frauenfeindliche Gewalt zu fordern, von wem auch immer sie ausgeht.
Was ist zu tun? Antifaschistische Perspektiven
Wir müssen verstehen, welche Explosion eines seit Sarrazin und Broder etc. jahrelang angehäuften, ideologisch-rassistischen Sprengstoffs wir hier gerade erleben – inzwischen übrigens weitgehend unabhängig von allem, was über die Ereignisse von Köln je gesichert bekannt sein wird. Der antiislamische Rassismus ist heute der entscheidende ideologische Kitt für die allermeisten reaktionären, sexistischen, militaristischen und neofaschistischen Bewegungen. Er hält sie zusammen, er lenkt die Wut vieler Menschen über ihre Lage nach „Unten“ und nach Außen, er sorgt für hohe Zustimmung zu wachsender Überwachung und Repression sowie für die wachsende Bereitschaft zum Krieg „gegen den Terror“.
Kurzfristig ist es notwendig, zunächst auf einer öffentlichen und transparenten Klärung der Ereignisse zu bestehen, ja sie selber in Angriff zu nehmen. Diese Aufgabe darf weder den Medien noch der Exekutive als wichtiger Teil des Problems überlassen bleiben. Eine gute Möglichkeit wäre ein öffentliches Tribunal, das alle verfügbaren Informationen über die Ereignisse zusammenträgt, selbst ermittelt und die Ergebnisse öffentlich vorträgt. Es gibt keinerlei Grund, den staatlichen „Aufklärungsbemühungen“ in diesem Zusammenhang auch nur einen Meter weit zu trauen.
Die jetzt angestoßene Sexismus-Debatte sollte seitens der gesamten Linken offensiv unterstützt werden. Das propagandistische Geschrei über den bösen islamischen Sex-Mob, der „unsere Frauen“ behelligt, kann durchaus zum Bumerang für die Rechte werden, wenn sie an den eigenen heuchlerischen Maßstäben gemessen wird. Die oben erwähnte feministische Erklärung „ausnahmslos“ stellt dafür eine Basis dar.
AntifaschistInnen müssen den gesellschaftlichen Zusammenhang von antiislamischem Rassismus, Patriarchat und Neofaschismus immer wieder konkret benennen und seine Ausdrucksformen praktisch bekämpfen. Letztlich heißt dieser Zusammenhang Kapitalismus. Antifaschismus kann nur erfolgreich sein, wenn er sich gegen den Kapitalismus richtet. Denn der Kapitalismus, heute: der Imperialismus, trägt nicht nur den Krieg, er trägt auch die Aufrechterhaltung des Patriarchats, den Faschismus und Rassismus in sich wie die Wolke den Regen.
In diesem Zusammenhang ist es für marxistische AntifaschistInnen besonders wichtig, den Zusammenhang zur Kriegsfrage herzustellen. Das „Feindbild Islam“ ist eben nicht nur Ausdruck der Spaltungsversuche herrschender Politik von Oben gegen Unten, nicht nur rassistische Verteidigung vermeintlicher Etabliertenvorrechte gegen die von außen eindringenden „Fremden“, sondern es ist vor allem Kriegspropaganda gegen den äußeren „Feind“. Dass es sich bei der Propaganda von der angeblichen Verteidigung westlicher Zivilisation gegen islamische Barbarei um imperialistische Kriegshetze handelt, zeigen die engen wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen der BRD mit der Türkei, mit Saudi-Arabien und den Golf-Theokratien. Der hierzulande gesäte Haß auf den Islam ist Ausdruck imperialistischer Ideologie nach Innen und Außen.
Hierüber müssen wir nicht zuletzt in den eigenen Reihen für Klarheit sorgen. Denn AntifaschistInnen in der BRD sehen sich heute gleich zwei Querfronten gegenüber.
Einerseits propagieren namhafte Theoretiker der Antifa wie Peter Schaber eine Zusammenarbeit antiimperialistischer und internationalistischer Kräfte mit sogenannten antinationalen Gruppen. „Antinational“ nennen sich heute meist Gruppierungen, die kaum andere Erklärungsmuster und Politikansätze verfolgen, wie die bei vielen inzwischen vollends diskreditierte „Antideutsche“. Ihre Arbeit dient dazu, „antideutsche“ Positionen in linken Gruppen erneut diskursfähig zu machen. „Antideutschen“ und „antinationalen“ Gruppen gemeinsam ist die Annahme der Existenz eines Islam- oder IS-Faschismus. Eingeschlossen und akzeptiert wird dabei in der aktuellen Kurdistansolidarität nicht selten sogar die Nähe zur NATO. Es ist klar, dass es auf dieser Basis schwierig wird, gegen den antiislamischen Rassismus in der BRD aktiv zu sein. Tatsächlich ist genau damit mindestens zum Teil die offenkundige Schwäche der antifaschistischen Bewegung im Kampf gegen eine um PEGIDA und die AfD entstehende neofaschistische Massenbewegung zu erklären.
Andererseits sind Teile der Linken und antifaschistischen wie antiimperialistischen Bewegung zur Zusammenarbeit in einer anderen Querfront bereit: mit Elsässer, Jebsen, Teilen der Freidenker, Teilen der Arbeiterfotografie, der Gruppe „Bandbreite“, den Friedenswinter-Aktivisten und Montags-Mahnwächtlern, deren Nähe zu PEGIDA und anderen rechten Gruppen zur Genüge belegt ist. Für sie ist nicht der Kapitalismus, sondern einzig der US-Imperialismus die Wurzel allen Übels, angesichts dessen man auch mit dem deutschen Kapital gemeinsame Sache machen und sich zudem zB. mit Putins Rußland verbünden sollte.
Läuft die erste Querfront-Position objektiv auf eine Art „anti-islamfaschistisches“ taktisches Bündnis mit der NATO einschließlich der Bundeswehr, objektiv sogar auch mit Erdogans Türkei hinaus, führt die zweite Position zu einer Entlastung des deutschen Imperialismus und seiner hegemonialen und aggressiven Gegenwart nach Innen und nach Außen.
Ergibt sich in der ersten der beiden skizzierten Querfronten objektiv eine Schnittmenge mit PEGIDA in der Bereitschaft, gegen „den Islam“, „die Salafisten“, „den IS“ gemeinsame Sache mit Teilen des Imperialismus und seines Gewaltapparats zu machen, ist die Schnittmenge in der zweiten Querfront mit PEGIDA deren Nationalismus und die Bereitschaft zum Burgfrieden mit Deutschland, solange es nur gegen den US-Imperialismus, „gegen Amerika“, geht.
Der antifaschistischen Bewegung in der BRD steht deshalb eine anstrengende und schwierig Phase bevor: sich wieder Klarheit zu verschaffen, was Antifaschismus heute heißt, die eigenen Kräfte auf der Basis dieser Klarheit zu konsolidieren, sich neu und effektiv lokal, regional, bundesweit und darüber hinaus zu organisieren, neue Bündnisse zu erarbeiten und gleichzeitig, wo immer es nötig ist, handelnd einzugreifen.