Zur Lebensarbeitszeit

Kapital fordert mehr

Erwerbstätige müssen bis zum Erreichen ihres Rentenalters immer länger arbeiten. Trotzdem nimmt die Zahl derer, die trotz Rente weiterhin erwerbstätig sind, kontinuierlich zu. 2003 waren noch 547.000 Erwerbstätige älter als 65 Jahre, 2015 stieg ihre Zahl auf 918.000. Inzwischen sind mehr als 1,3 Millionen Menschen im Rentenalter abhängig beschäftigt.

Die Gründe, warum man nach dem Erreichen des Renteneintrittsalters weiter arbeitet, sind sicher individuell unterschiedlich. Es gibt Menschen, die für sich in der Fortsetzung ihrer Erwerbstätigkeit eine Aufgabe sehen und so eine persönliche und gesellschaftliche Anerkennung finden. In der Regel sind es jedoch die sozialen und ökonomischen Verhältnisse. Die zunehmende Altersarmut als Folge von niedrigen Löhnen, unterbrochenen Erwerbsbiographien sowie dem Absenken des Rentenniveaus zwingt immer mehr Kolleginnen und Kollegen dazu, noch im hohen Alter ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um so ihre karge Rente aufzubessern.
Diese Verhältnisse sind nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis einer Politik, die in den vergangenen Jahren die Sozialversicherungssysteme systematisch ausgehöhlt und Rentenkürzungen dreist als „Generationengerechtigkeit“ verkauft hat. Ein erstes einschneidendes Ereignis war hier die Kürzung der Erwerbsminderungsrente zur Jahrtausendwende durch die Schröder-Fischer-Regierung. Wer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten konnte, musste fortan empfindliche finanzielle Einbußen in Kauf nehmen oder sich rechtzeitig zusätzlich privat absichern. Nicht zufällig verdient sich die Versicherungswirtschaft seit jener Zeit durch private Berufsunfähigkeitsversicherungen eine goldene Nase.

Ein Jahr später war dann die gesetzliche Rentenversicherung an der Reihe. Das Rentenniveau wurde abgesenkt. Als die Große Koalition 2007 das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre anhob, kam dies faktisch einer weiteren Rentenkürzung gleich.

Spätestens nach der Bundestagswahl soll nun die nächste Runde bei den Rentenkürzungen eingeläutet werden. In regelmäßigen und immer kürzeren Abständen fordern Unternehmerverbände und ihnen nahe stehende Stiftungen und Forschungsinstitute eine Erhöhung des Renteneintrittsalters. In der vergangenen Woche hat eine „Expertenkommission“ der Bundesvereinigung der Deutschen Industrie (BDI) nachgelegt und die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf perspektivisch 70 Jahre gefordert. Auch der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums will hier nicht zurückstehen und befürwortet in seinem jüngsten Gutachten eine dynamische Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung.

Zusammengefasst zeichnet sich die Rentenpolitik der letzten Jahrzehnte durch niedrige Sozialversicherungsbeiträge für die Unternehmer und hohe Profitraten für die privaten Versicherungskonzerne auf der einen Seite und Altersarmut und „sozialverträgliches Ableben“ der Lohnabhängigen auf der anderen Seite aus. Dies zeigt deutlich, dass die Rentenfrage eine Verteilungsfrage ist, in der die Konfliktlinie nicht zwischen den Generationen, sondern zwischen Kapital und Arbeit verläuft.

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"Kapital fordert mehr", UZ vom 27. August 2021



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