WSI-Arbeitskampfbilanz: Mehr Streiks, geringere Beteiligung

Kapital eskaliert

Reallohnverluste in Folge einer extrem hohen Inflation – das sind die Rahmenbedingungen, unter denen Arbeitskämpfe stattfinden, seit Spitzenpolitiker der Grünen das Vorhaben ankündigten, „Russland zu ruinieren“. Daher verwundert es nicht, dass 2023 im Vergleich zu den vergangenen zwei Jahrzehnten ein konfliktintensives Jahr war. Sowohl die Zahl der Arbeitskämpfe als auch die durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage haben sich gegenüber 2022 deutlich erhöht. Zu diesen Ergebnissen kommt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Die in der vergangenen Woche vorgestellte „Arbeitskampfbilanz 2023“ des gewerkschaftsnahen Instituts liefert hierzu detailliertes Datenmaterial. Es wurden insgesamt 312 Arbeitskämpfe für 2023 ermittelt. Dies sind 87 mehr als noch 2022. Rechnerisch fielen dadurch 1.527.000 Arbeitstage aus – mehr als doppelt so viele wie 2022.

Etwas anders sah hingegen die Entwicklung bei der Streikbeteiligung aus. Wurden 2023 über alle Arbeitsniederlegungen hinweg insgesamt 857.000 Streikteilnehmer gezählt, waren es 2022 rund 930.000. Nur 2015 war mit 1,13 Millionen Streikenden und gut zwei Millionen ausgefallenen Arbeitstagen in 135 Arbeitskämpfen ein noch intensiveres Jahr in der WSI-Statistik, die seit 2006 eigenständig erhoben wird.

Als eine Ursache für die „stellenweise erhebliche Eskalation der jüngsten Arbeitskämpfe“ macht das WSI die häufig anzutreffende Verweigerungshaltung der Kapitalseite aus – bis hin nach dem Ruf nach Einschränkungen des Streikrechts. Beispielhaft hierfür stehen der über 13 Monate laufende Arbeitskampf im Handel oder die seitens der Arbeitgeber durch deren Ablehnung eines Schlichtungsergebnisses provozierten Streiks im Bauhauptgewerbe. Gleiches gilt auch für eine Vielzahl von Auseinandersetzungen um Haustarife. Diese auf einzelne Betriebe und Firmen beschränkten, häufig eher kleineren Auseinandersetzungen machten auch 2023 wieder die große Mehrheit der Arbeitskämpfe aus.

Oft war es das Ziel, Unternehmen zum Anschluss an bestehende Branchentarifverträge zu bewegen. Nicht selten ging es aber auch darum, überhaupt eine Tarifbindung zu erreichen. Als prominentes Beispiel hierfür nennt der WSI-Report den dänischen Windanlagenhersteller Vestas, bei dem erst nach 123 Streiktagen erstmals ein Tarifabschluss gelang. Noch länger, nämlich 180 Tage, dauerte der – allerdings vergebliche – Arbeitskampf bei der Schrott- und Recyclingfirma SRW metalfloat in Sachsen, die zu einem multinationalen Konzern gehört.

In der internationalen Streikstatistik, bei der die arbeitskampfbedingten Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigte miteinander verglichen werden, belegt Deutschland wieder nur einen Platz im unteren Mittelfeld – trotz der häufig gehörten Behauptung von einer „maßlosen Streikgier“ der Gewerkschaften. Hierzulande fielen in den zehn Jahren zwischen 2013 und 2022, dem jüngsten Jahr, für das die nötigen internationalen Vergleichsdaten vorliegen, aufgrund von Arbeitskampfmaßnahmen im Jahresdurchschnitt rechnerisch pro 1.000 Beschäftigte rund 18 Arbeitstage aus.

Im Ländervergleich variiert das relative Arbeitskampfvolumen sehr stark. Das höchste Arbeitskampfvolumen hat wie im Vorjahr Belgien. Hier waren zwischen 2013 und 2022 im Jahresdurchschnitt 103 Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigte zu verzeichnen. Es folgen Frankreich (92 Tage), Finnland (90 Tage) und Kanada (83 Tage). In der Schweiz, Österreich, Schweden sowie der Slowakei sind Arbeitskämpfe mit Ausfalltagen hingegen sehr selten und bewegen sich in den zehn Jahren von 2013 bis 2022 von zwei bis null Tage.

Auch 2024 dürfte nach Auffassung des WSI mit hoher Wahrscheinlichkeit „eher ein arbeitskampfintensives Jahr werden“. Ob dabei die Werte des abgelaufenen Jahres übertroffen werden, wird viel vom Verlauf der Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie im Herbst abhängen. Die jüngsten Äußerungen von Gesamtmetall lassen jedenfalls vermuten, dass den Kolleginnen und Kollegen nichts geschenkt wird.

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"Kapital eskaliert", UZ vom 5. Juli 2024



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