Zur Mindestlohn-Debatte

Kanzler der Untergrenze

Mitte Mai läutete Bundeskanzler Olaf Scholz den Wahlkampf zur Verteidigung seines Jobs im Kanzleramt ein, indem er in einem Interview mit der Wochenzeitschrift „Stern“ erklärte: „Ich bin klar dafür, den Mindestlohn erst auf 14 Euro, dann im nächsten Schritt auf 15 Euro anzuheben.“ Rainer Dulger, Präsident der „Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“, schrie sofort „Tabubruch!“ und der stellvertretende Vorsitzende der FDP im Bundestag schimpfte über „Wahlkampftaktik und Populismus“, um dann zu dozieren: „Staatliche Übergriffe auf die Mindestlohnkommission sind abzulehnen.“

Diese Position ist insofern nachvollziehbar, als Unternehmer und ihre politischen Lautsprecher mit dieser paritätisch von Unternehmern und Gewerkschaftsvertretern besetzten Kommission in den letzten Jahren hochzufrieden sein konnten. Während beispielsweise die Gehälter der Bundestagsabgeordneten ab Juli dieses Jahres um 6 Prozent auf 11.227,20 Euro steigen –, auf eine 40-Stunden-Woche gerechnet wäre das ein Stundenlohn von gut 70 Euro – soll der Mindestlohn 2025 von mickrigen 12,41 Euro um lediglich 3 Prozent auf 12,82 Euro steigen. Diese Mini-Steigerung setzte das Unternehmerlager gegen die Gewerkschaftsvertreter durch, die sich auf verbalen Protest beschränkten.

Weil in der Kommission ein Einstimmigkeitsprinzip gilt, braucht es nun ein Bundestagsvotum. Das hatte es zum letzten Mal zum Oktober 2022 gegeben – mit der überfälligen Erhöhung auf 12 Euro, die aufgrund der Preissteigerungswelle aber auch keine Reallohnsicherung bedeutete. Dennoch feiert die SPD diese Erhöhung bis heute frenetisch. Ohne Olaf Scholz hätte es „die Anhebung der Lohnuntergrenze“ nicht gegeben, heißt es auf der SPD-Homepage. Scholz soll als „Kanzler der Lohnuntergrenze“ in den Wahlkampf ziehen – ein billiges Manöver. Die von ihm als erstes Ziel verkündeten 14 Euro sind bereits in der EU-Mindestlohn-Richtlinie vorgeschrieben. Danach muss dieser 60 Prozent des von Vollzeitkräften erreichten Medianlohns betragen. Bis Ende 2024 wären das nach den Tarifabschlüssen bis Mitte dieses Jahres eben 14 Euro. Das, was sowieso feststeht, wird so zum Wahlkampfschlager.

Ernster als diese Posse ist der Hintergrund der Debatte. Nicht nur die flügellahme Gegenwehr der Gewerkschaften in der Mindestlohnkommission, sondern auch eine sich bedenklich häufende Fülle von Indizien zeigt, dass sich vor allem Geringverdiener nicht auf die Kampfkraft ihrer DGB-Gewerkschaften verlassen können. Bei SRW Metalfloat in Espenhain bei Leipzig hat die IG Metall den längsten Streik in ihrer Geschichte nach 180 Tagen gerade beendet. „Wenn sich ein Unternehmen so unnachgiebig gegen Gewerkschaften (…) stellt, ist kein Weg für eine verantwortungsvolle, sozialpartnerschaftliche Lösung möglich“, resümierte Steffen Reißig von der IG Metall Leipzig. Er machte unfreiwillig deutlich, dass, wenn die Sozialpartnerschaft beschworen wird, anstelle den Klassenkampf zu führen, sich „Unnachgiebigkeit“ für das Kapital immer auszahlt.

Parallel dazu ist der Kampf um den Frieden von den eng mit der SPD und „Grünen“ verwobenen Gewerkschaftsspitzen zugunsten einer Zustimmung zum Wirtschafts- und Kriegskurs der Regierung abgewürgt worden. Auch das hat sich als Bremsklotz für energische Lohnkämpfe erwiesen. Eine Hinwendung der Gewerkschaften zu Klassen- und Friedenskampf würde – über die Anhebung des Niveaus der Tariflöhne – die Steigerung des Mindestlohns schnell über die 15 Euro tragen. Scholz müsste sich ein neues Wahlkampfthema suchen.

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"Kanzler der Untergrenze", UZ vom 24. Mai 2024



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