Zehn Jahre nach Aussetzung der Wehrpflicht

Kanonenfutter gesucht

Im Juni 2010 beschloss die Bundesregierung, alle Ressorts müssten zur Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise bis 2014 zusammen 82 Milliarden Euro einsparen. Die Bundeswehr hätte hierzu insgesamt 8,3 Milliarden Euro beitragen sollen, weshalb der Militärhaushalt von damals 31,1 auf 27,6 Milliarden Euro bis 2014 sinken sollte. Als wesentliches Element, um diese Einsparungen zu realisieren, wurde mit der nahezu parallel gestarteten „Neuausrichtung der Bundeswehr“ die Aussetzung der Wehrpflicht verkauft. Sie schien gegenüber Kürzungen des Beschaffungsetats als die attraktivere Alternative, da der Fokus der Bundeswehr damals noch auf Militäreinsätzen im globalen Süden lag und Wehrpflichtige nicht in solche Einsätze geschickt werden durften. Aus diesem Grund wurde der Umfang der Bundeswehr in der Folge von 240.000 auf maximal 185.000 Soldatinnen und Soldaten reduziert.

Bekanntlich wurde der Sparbeschluss – für die Bundeswehr – schnell wieder einkassiert, 2014 betrug der Rüstungshaushalt bereits 32,4 Mrd. Euro, nur um danach noch schneller auf 46,8 Mrd. Euro im kommenden Jahr durch die Decke zu schießen. Und auch die Aussetzung der Wehrpflicht kam spätestens mit der Eskalation der westlich-russischen Konflikte im Zuge der Auseinandersetzungen um die Ukraine wieder zunehmend in die Kritik. Obwohl Militäreinsätze im globalen Süden weiter zum Portfolio gehören sollen, wurde der Fokus seither unter dem Rubrum „Landes- und Bündnisverteidigung“ zunehmend auf Russland verlagert. Dementsprechend hieß es dann in der „Konzeption der Bundeswehr“ im Juli 2018: „Die Bundeswehr muss in der Lage sein, zur kollektiven Bündnisverteidigung in allen Dimensionen mit kurzem Vorlauf, mit umfassenden Fähigkeiten bis hin zu kampfkräftigen Großverbänden innerhalb und auch am Rande des Bündnisgebietes eingesetzt zu werden.“

Im darauf aufbauenden Fähigkeitsprofil der Bundeswehr vom September 2018 wurde dann festgelegt, dass die Bundeswehr bis 2023 eine schwere Brigade (circa 5.000 Soldatinnen und Soldaten), bis 2027 eine Division (circa 15.000) und bis 2031 drei Divisionen in die NATO einspeisen sollte. Spätestens ab da war klar, dass dies mit der Deckelung auf 185.000 SoldatInnen nicht zu machen ist. Schon im Fähigkeitsprofil hieß es deswegen, die Bundeswehr müsse perspektivisch wieder auf eine Truppenstärke von 203.000 anwachsen. Ende Dezember 2019 gelangten Teile eines internen Überprüfungsberichts des Fähigkeitsprofils an die Öffentlichkeit, in dem es hieß, nicht einmal dies würde für die ambitionierten Planungen ausreichen: „Erste Abschätzungen für eine mit dem Zwischenschritt Ende 2031 zu erreichende vollumfängliche Erfüllung aller durch Deutschland akzeptierten NATO-Planungsziele weisen in Richtung eines deutlich höheren Gesamtbedarfs an Soldatinnen und Soldaten.“

Vor diesem Hintergrund ist es für die Bundeswehr besonders misslich, dass ihr mit der Aussetzung der Wehrpflicht ihr bis dahin wichtigstes Rekrutierungsinstrument abhandengekommen war. Trotz der seit Jahren massiven Rekrutierungsbemühungen – von YouTube-Serien bis hin zu kaum übersehbarer flächendeckender Plakatwerbung werden hier alle Register gezogen – leidet die Truppe unter massiven Rekrutierungsproblemen. Aktuell umfasst die Personalstärke der Bundeswehr 183.528 Soldatinnen und Soldaten (Stand: Oktober 2020).

Um die Reihen aufzufüllen, werden deshalb Dinge wie eine Allgemeine Dienstpflicht oder ein Deutschland-Praktikum gefordert und auch der im Sommer 2020 verkündete Freiwilligendienst „Dein Jahr für Deutschland“ ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Aber auch direkte Forderungen nach einer Wiedereinführung der Wehrpflicht werden seit einigen Jahren wieder lauter. Ganz perfide wird es dabei, wenn etwa die SPD-Wehrbeauftragte Eva Högl die Aussetzung der Wehrpflicht im Sommer 2020 als „Riesenfehler“ bezeichnete und deren Wiedereinführung als einen Beitrag zur Bekämpfung rechter Tendenzen in der Bundeswehr fordert. Wer etwas gegen den Rechtsradikalismus in der Truppe tun will, der schafft sie ab, alles andere trägt nur dazu bei, dem Säbelrasseln gegen Russland weiteres Kanonenfutter zuzuführen.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Kanonenfutter gesucht", UZ vom 24. Dezember 2020



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Baum.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit