In Berlin ist die Hölle los! Wenn das UZ-Pressefest dort erstmals zu Gast ist, gibt die ansässige Peter-Hacks-Gesellschaft ihr „Heimspiel“ – im wahrsten Sinne des Wortes. Der große DDR-Dramatiker Hacks hat 1995 im Auftrag des „Deutschen Theaters“ eine Bearbeitung von Jacques Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“ erstellt, bei der der berühmte „Höllen-Cancan“ nicht fehlen darf. Am Samstagabend des Pressefests leitet Jens Mehrle die musikalisch-halbszenische Lesung der Hacks-Bearbeitung im Kino Babylon – mit Gottfried Richter, Ursula Werner, Winnie Böwe, stefanpaul und vielen mehr. Eine Besonderheit ist die Mitwirkung des Berliner Ernst-Busch-Chores, der bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten bei einem Gastspiel der Bitterfelder Uraufführung mitwirkte.
Was erwartet das Publikum in dieser Operette? Der Prolog fasst für das Publikum schon alles knapp zusammen, geht es doch um nichts Nebensächliches: Liebe, Kunst, Tod und wie das eine dem anderen ein Schnippchen schlagen kann, denn Hacksens „Urwort drauf. Die Wende kann sich wenden./Was schlecht begann, es muss ja nicht schlecht enden.“
Es beginnt also erst mal schlecht: Zwischen der schönen Nymphe Eurydike und dem Musensohn Orpheus ist die Ehe zunehmend fad geworden (1. Akt). Das Publikum sieht schnell den Grund: die Beziehung mit einem Genie kann durchaus anstrengend sein. Wer teilt schließlich gern die Liebe mit einer Nebenbuhlerin, selbst oder besonders, wenn es sich um die Kunst handelt? Da der Gatte die Gattin („sein Publikum“) mit der Violine quält, sagt sie sich von ihm los und dem schönen Schäfer Aristeus mitsamt seinen Tutus tragenden Lämmern zu. Dass sich aber im Schafspelz zischende Furien und im Schäfergewand der Leibhaftige verstecken, erkennt Eurydike zu spät. Das Gift schickt sie, sich dennoch noch ein besseres Liebesleben erhoffend („Hinab! Da ich nun einmal tot bin,/So wähl ich freudig meinen Tod.“), in den Orkus. Seinem Publikum, seiner Liebe beraubt, wagt sich Orpheus unter des Liebesgottes Cupido Ansporn hinterher.
In der Unterwelt (2. Akt) kommt die tödlich verführte Eurydike zu Sinnen und stellt fest, dass ihr Liebesleben noch fader ist als zuvor. Sie teilt das traurige Los früherer Eroberungen Plutos: man ist tot, muss sich auf sein Geheiß (vor der natürlich wissenden Gattin Proserpina) verstecken und ein schönes Himmelbett, seidenes Nachthemd oder gar Zimmer mit Ausblick gibt es auch nicht. Stattdessen plagt einen das Hauspersonal in Gestalt vorlauter Furien oder des versoffenen Fährmanns Styx („Das ist die Hölle, Madame; sie zeigen einem alles und sie geben einem nichts.“). Aussicht auf sinnliches Vergnügen? – Wohl kaum, denn der Verführer ist permanent „in Anspruch genommen“, also nicht abkömmlich. Eurydike, das vielleicht nicht schlaueste, aber im Orkus sich ihrem Wert bewusst gewordene Frauenzimmer, lässt sich zwar vom Fliegengott noch besummsen, aber nicht behumsen. Als die Hausherrin Proserpina noch das letzte Liebesspiel zwischen ihrem Gatten Pluto und der Entführten unterbricht, entflammt Orpheus‘ fernes Violinspiel das tote Herz seiner Gattin. Die höllischen Beamten – gesungen vom Ernst-Busch-Chor – jedoch drohen dem Genie: „Die Hölle ist nicht musikalisch./Hier dringt kein Lebender herein.“
Es endet am Ende (3. Akt) für alle nicht schlecht, außer vielleicht für den Gott der Unterwelt selbst, welchem neben der Eroberung zudem die Ehre genommen wird. Seine Gattin nämlich wäscht vor allen Beteiligten „schmutzige Wäsche“ und es kommt heraus: Pluto entpuppt sich nicht nur als stümperhafter Kavalier, sondern auch noch als impotent. Letzteres ist nur konsequent, denn ein Totengott kann bei allem Eifer kein Leben schenken, nur welches nehmen. Er bleibt ein Schatten seines Gegenteils, Jupiter. Wo Letzterer sich seine Partnerinnen kraft seiner Allmacht aussuchen (beziehungsweise nehmen) und „beglücken“ kann, muss der andere müßig verführen, um dann mäßig zu verfahren – welche Hölle für den Höllengott.
Im Gegensatz zum Mythos und Offenbachs Operette ermöglicht Hacks den Sieg Orpheus‘ über Pluto, also den Sieg der Kunst über den Tod und genauer: den Sieg des Genies über die Götter. Hier liegt die eigentliche Fabel der Bearbeitung des DDR-Dramatikers versteckt. Nicht allein die Liebe zu seiner Gemahlin, ihm Muse und Publikum zugleich, lässt jene wieder auferstehen. Für Hacks ist das „Genie“ etwas Besonderes (s. das Monodrama „Ein Gespräch im Hause Stein (…)“ und das Dramolett „Die Höflichkeit der Genies“) und der dialektische Kniff besteht im „Orpheus“ darin, das Genie über das Gespann „Mensch-Gott“ zu stellen. Es mag körperlich an sein sterbliches Geschlecht gebunden sein, seine Schöpfungsgabe schon stellt ihn mit den unsterblichen Göttern auf eine Stufe, aber es ist der Ruhm seines Schaffens, der ihn zu einem „unsterblichen Sterblichen“ macht. Orpheus‘ Violinspiel also Kunst ist so mächtig, dass (im 3. Akt) in der „Oberwelt“ wilde Tiere nicht nur zahm, sondern samt Bäumen und Steinen selbst zu Violinisten werden. Nicht mal der Allmächtige ist so kreativ.