In einem noch nie dagewesenen Projekt veröffentlichte „Culture Matters“ zwischen 2019 und 2021 eine Trilogie von Anthologien zeitgenössischer irischer Arbeiterliteratur: „The Children of the Nation“ (2019), eine Lyriksammlung, „From the Plough to the Stars“ (2020), einen Prosaband, und „Land of the Ever Young“ (2021), ein vollständig illustriertes Buch mit Texten für Kinder. Diese Anthologien waren die ersten ihrer Art in Irland, die auf basisdemokratische Weise die Schriften der arbeitenden Bevölkerung zusammenstellten.
Der Chefredakteur der britischen sozialistischen Online-Publikation „Culture Matters“, Mike Quille, beauftragte mich mit der Herausgabe dieser Bände, weil er meinen DDR-Hintergrund kannte. Ich war mit einem Bewusstsein über den Stellenwert der Arbeiterkultur im kulturellen Diskurs sowie als Forschungsgegenstand aufgewachsen. Mein Vater, Jack Mitchell, widmete seine gesamte akademische Laufbahn der Erforschung der irischen und schottischen Arbeiterliteratur und als Sänger interessierte er sich sehr für das Volkslied und das politische Lied. Eine Freundin der Familie war Mary Ashraf, eine herausragende Wissenschaftlerin der Arbeiterliteratur.
Die DDR definierte sich bekanntlich als Arbeiter-und-Bauern-Staat, in dem der erwirtschaftete Reichtum wieder in den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung einfloss. Dazu gehörten niedrige Mieten, eine kostenlose Gesundheitsfürsorge, Bildung, sehr preiswerte Grundnahrungsmittel und öffentliche Verkehrsmittel, Theater- und Konzertanrechte für Arbeitskollektive sowie ein staatlich subventionierter Zugang zu allen Bereichen von Sport und Kultur.
Um die Beteiligung der Arbeiterklasse an der Kunst zu gewährleisten, gab es in den meisten Betrieben unter anderem Zirkel für schreibende Arbeiter, in der Regel von etablierten Schriftstellern geleitet. Aus diesen Werkstätten gingen manche erfolgreiche Autoren hervor. Darüber hinaus wurden hauptberufliche Schriftsteller ermutigt, einige Zeit in der Produktion zu verbringen, sich mit den Menschen und dem Leben der Arbeiterklasse vertraut zu machen, um authentischer darüber schreiben zu können.
Es gab in der DDR keine riesigen Einkommensunterschiede, alle erhielten einen angemessenen Lohn und waren damit und mit den zahlreichen staatlichen Subventionen am erwirtschafteten Volksvermögen beteiligt. Die besondere Förderung von Arbeiterkindern begünstigte deren Zugang zur Universität und verlieh damit auch dem akademischen Bereich ein solides Bewusstsein der Arbeiterklasse. Zudem war die Arbeiterklasse an den Universitäten in den sozialistischen Ländern ein regulärer Forschungsgegenstand.
Für den Kapitalismus definierte Marx im „Manifest“ die Angehörigen der Arbeiterklasse bekanntlich als jene, die nichts besitzen außer ihrer Arbeitskraft: „In demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d. h. das Kapital, entwickelt, in demselben Maße entwickelt sich das Proletariat, die Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt. Diese Arbeiter, die sich stückweis verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel und daher gleichmäßig allen Wechselfällen der Konkurrenz, allen Schwankungen des Marktes ausgesetzt.“
Die Arbeiterklasse partizipiert nur geringfügig an dem von ihr geschaffenen Reichtum. Dazu gehören auch Arbeitslose und Menschen, die ebenfalls sehr wenig für ihre Arbeit erhalten – einige Selbstständige, Kleinbauern, Menschen mit Kurzzeit- oder Nullverträgen: alle, die von der Möglichkeit ausgeschlossen sind, einen existenzsichernden Lohn zu verdienen. Die Arbeiterklasse nimmt also in Wirklichkeit zu. „Die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen fallen ins Proletariat hinab, teils dadurch, dass ihr kleines Kapital für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und der Konkurrenz mit den größeren Kapitalisten erliegt, teils dadurch, dass ihre Geschicklichkeit von neuen Produktionsweisen entwertet wird. So rekrutiert sich das Proletariat aus allen Klassen der Bevölkerung“, heißt es im Manifest.
Im Kapitalismus umfasst die Arbeiterklasse also alle Bevölkerungsschichten, die von prekären Arbeits- und Lebensbedingungen betroffen sind – diese Gruppen bilden eine Reservearmee von Arbeitern, die dazu dienen, die Löhne niedrig zu halten. „Im großen und ganzen sind die allgemeinen Bewegungen des Arbeitslohns ausschließlich reguliert durch die Expansion und Kontraktion der industriellen Reservearmee, welche dem Periodenwechsel des industriellen Zyklus entsprechen.“ („Das Kapital“)
Im heutigen Irland werden alle möglichen finanziellen Hindernisse errichtet, um die Arbeiterklasse von der Bildung auszuschließen. Doch auch viele Akademiker haben verkürzte Arbeitszeiten oder sind arbeitslos, das heißt, sie sind weitgehend vom Wohlstand der Gesellschaft ausgeschlossen. Auch sie erfahren die Lage der Arbeiterklasse im Kapitalismus, wobei es natürlich dank dem Kampf der Gewerkschaften auch Unternehmen gibt, deren Arbeiter einen existenzsichernden Anteil an dem von ihnen produzierten Reichtum erhalten.
Beteiligung der Arbeiterklasse an der Kultur
Ist der kulturelle Mainstream ein Ausdruck der herrschenden Ideen in einer Gesellschaft und somit der Ideen der herrschenden Klasse, dann sind die Kräfte, die das Verlagswesen und die Medien kontrollieren, davon nicht ausgenommen. Doch schildern Autoren aus der Arbeiterklasse ihre Lebenswirklichkeit, werden sie von diesen kulturellen Machthabern häufig zum Schweigen gebracht.
Ein Beispiel ist der Maurer Alan O’Brien, der in allen drei Anthologien vertreten ist. Er reichte sein Hörspiel „Snow Falls and So Do We“ (2016, Schnee fällt, wie auch wir) beim staatlichen irischen Rundfunk RTE ein, das auf der wahren Geschichte von Rachel Peavoy basiert, die im Januar 2010 in einer Wohnung in Ballymun erfror. O’Brien gewann den P. J. O’Connor Award für das beste neue Hörspiel, stieß aber auf erheblichen Widerstand von RTE, als sie sein Stück senden sollten. O’Brien wurde gesagt, sein Text sei plump und die Darstellung der Polizei inakzeptabel. Es wurden schwerwiegende und entstellende Änderungen vorgeschlagen, die auf eine Hollywoodgeschichte hinausliefen. O’Brien lehnte die Änderungen ab, RTE nahm sie trotzdem ohne weitere Rücksprache vor. Vor allem änderten sie das Ende, in dem eine Frau aus der Arbeiterklasse an den Folgen des sozialen Abstiegs stirbt und metaphorisch (und tatsächlich) erfriert. Tragödien aus der Arbeiterklasse darf es nicht geben. Das Establishment wird nur seine eigene Interpretation akzeptieren und die Geschichte entsprechend umschreiben.
Diese Erfahrung spiegelt eine allgemeine Verleugnung, Ignoranz und Ablehnung des kulturellen Ausdrucks der Erfahrungen, Werte und Kultur der Arbeiterklasse in den meisten Bereichen wider. Das Verlagswesen ist davon nicht ausgenommen – seine Leserschaft, Kritiker sind auf die Erfahrungen der Mittelschicht ausgerichtet. Menschen aus der Arbeiterklasse sind nicht nur finanziell vom Mainstream-Kulturkonsum ausgeschlossen, sie werden auch oft aktiv von den Medien – einschließlich der Verlagsbranche – daran gehindert, ihre Erfahrungen künstlerisch auszudrücken. Insofern beschreiten diese Anthologien einen neuen Weg, doch bleiben sie ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Die irische Gewerkschaftsbewegung unterstützte das Projekt sehr großzügig und drei führende irische Gewerkschafter schrieben die Vorworte.
Bis vor Kurzem habe ich moderne irische Literatur unterrichtet und beobachtet, wie viel enthusiastischer die Studierenden reagieren, wenn ein Gedicht direkt etwas mit ihrer Lebenserfahrung zu tun hat. Das war für sie eine Offenbarung.
Viele der Autoren begannen nur deshalb mit dem Schreiben, weil in den Büchern, die sie lasen, niemand wie sie vorkam. Um den Lesern der Anthologien ihre Gemeinsamkeiten mit den Autoren zu verdeutlichen, wurden alle gebeten, eine kurze Biografie zu verfassen, in der sie ihre Verbindung zur Arbeiterklasse darlegen. Dieser Bruch mit der Konvention, Klassenzugehörigkeit zu verschweigen, wurde vom Publikum sehr positiv aufgenommen, das sich selbst in einem Buch wiederfinden will, seine Biografien, seine Geschichten, seine Lebenserfahrungen.
Ein wichtiger Aspekt war die Einbeziehung irischsprachiger Literatur, denn meist wird eine künstliche Trennung zwischen Irisch und Englisch vorgenommen, deren Literaturen in getrennten Büchern veröffentlicht werden, wodurch die Gemeinsamkeiten der Autoren verschleiert werden.
Außerdem gibt es eine beträchtliche Anzahl von Autoren aus dem Norden Irlands aus der katholischen wie protestantischen Arbeiterklasse. Das unterstreicht nicht allein deren Gemeinsamkeiten, sondern auch die zwischen den Menschen im Norden der Insel und denen in der Republik. Für die irische Arbeiterliteratur wurde eine neue Seite aufgeschlagen.
Jenny Farrell (Hrsg.)
The Children of the Nation
An Anthology of Working People’s Poetry from Contemporary Ireland
From the Plough to the Stars
An Anthology of Working People’s Prose from Contemporary Ireland
Land of the Ever Young
An Anthology of Working People’s Writig for Childeren from Contemporary Ireland
Die Anthologien sind zu beziehen unter culturematters.org.uk
Am 4. Juni 1942 wurde im von den deutschen Faschisten eingerichteten Ghetto Krakau der jüdisch-polnische Dichter und Komponist Mordechaj Gebirtig (1877 bis 1942) ermordet. Im Zuge einer so genannten „Räumungsaktion“ der SS wurde er einen Monat nach seinem 65. Geburtstag auf offener Straße erschossen, ebenso wie zahlreiche weitere Ghettoinsassen.
Gebirtig, geboren als Bertig, stammte aus dem jüdischen Krakauer Arbeiterbezirk Kazimierz, war von Beruf eigentlich Tischler sowie Mitglied des sozialistischen Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes. Als künstlerischer Autodidakt schuf er zahlreiche Gedichte und Lieder in jiddischer Sprache, darunter die politischen Werke „Undzer shtetl brent“ („S’ brent“) oder „Blayb gezunt mir, kroke“. Weithin bekannt ist auch der „Arbeitslosenmarsch“ („Arbetlosemarsch“), dessen Text wir im Folgenden dokumentieren.
Arbetlosemarsch (1910)
Ejns, tswej, draj, fir
Arbetlose senen mir
Nisht gehert chadoschim lang
In fabrik dem hammer-klang
’S lign kejlim kalt, fargesn
’S nemt der sschawer sej schoj fresn
Gejen mir arum in gas
Wi di g’wirim pust-un-pas
Wi di g’wirim pust-un-pas
Ejns, tswej, draj, fir
Arbetlose senen mir
On a beged, on a hejm
Undser bet is erd un lejm
Hat noch wer wos tsu genisn
Tajt men sich mit jedn bisn
Waser wi di g’wirim wajn
Gisn mir in sich arajn
Gisn mir in sich arajn
Ejns, tswej, draj, fir
Arbetlose senen mir
Jorn lang gearbet schwer
Un geschaft alts mer un mer
Hajser, schleser, schtet un lender
Far a hojfele farschwender
Undser lojn derfar is wos?
Hunger, nojt un arbetlos
Hunger, nojt un arbetlos
Ejns, tswej, draj, fir
Ot asoj marschirn mir
Arbetlose, schrit noch schrit
Un mir singen sich a lid
Fun a land, a welt a naje
Wu es lebn mentschn fraje
Arbetlos is kejn schum hant
In dem najen frajen land
In dem najen frajen land.
Arbeitslosenmarsch
Eins, zwei, drei, vier:
Arbeitslose senen wir
Haben schon zwei Jahre lang
nichts gehört vom Hammerklang
Werkzeug liegt und wird vergessen,
bald hat es der Rost zerfressen
wir gehn auf der Gass herum,
wie die Reichen: sinnlos, dumm
Eins, zwei, drei, vier:
Arbeitslose senen wir
ohne Stube, ohne was,
unser Bett ist Sand und Gras
hat noch wer was zu fressen,
teilen wir uns jeden Bissen
Wasser, statt der Reichen Wein,
schütten wir in uns hinein
Eins, zwei, drei, vier:
Arbeitslose senen wir
Lange schufteten wir schwer
und wir schafften mehr und mehr
Häuser, Schlösser, Städte, Länder
für das Häufchen der Verschwender
aber unser Lohn war bloß:
Hunger, Not und arbeitslos
Eins, zwei, drei, vier:
also nun marschieren wir
Arbeitslose Schritt für Schritt
und wir singen unser Lied
von dem Land so groß und neu,
alle Menschen sind da frei
arbeitslos ist keine Hand
in dem neuen freien Land.