Zum Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan

Kampf um Einflusssphären

Wird er halten, der Waffenstillstand, auf den sich Armenien und Aserbaidschan am Mittwoch vergangener Woche geeinigt haben? Keine zwei Tage zuvor hatte Aserbaidschan wieder einmal sein westliches Nachbarland überfallen; die Kämpfe hatten beinahe 200 Todesopfer gefordert und waren die heftigsten seit dem sechswöchigen Krieg zwischen den beiden Staaten im Herbst 2020. Ein erster Waffenstillstand scheiterte, der zweite – der vom Mittwoch – schien jedenfalls am Wochenende noch Bestand zu haben, wobei sich der Konflikt im Südkaukasus immer wieder als unberechenbar erwiesen hat.

Ursprünglich ging es bei dem Konflikt vor allem um Territorialansprüche mit Blick auf Bergkarabach, eine von Armeniern bewohnte Exklave in Aserbaidschan. Im Krieg von 2020 hat Aserbaidschan an Bergkarabach grenzende Territorien, die Armenien gehalten hatte, erobert und darüber hinaus einen Teil der Exklave besetzt. Streit um Territorien gibt es noch immer. Hinzu kommt allerdings – und das war auch schon 2020 der Fall –, dass Ankara in dem Konflikt eine immer wichtigere Rolle spielt. Hintergrund ist, dass die Türkei Aserbaidschan, ausgehend unter anderem von den eng verwandten Sprachen beider Staaten, als „Bruderland“ ansieht und mit ihm sehr eng kooperiert, militärische Ausbildung sowie Aufrüstung mit wirkungsvollen Drohnen inklusive. Aus Sicht pantürkischer Nationalisten ist ­Aserbaidschan Teil eines riesigen Gebiets, das vom Kaspischen Becken bis weit nach Zentral­asien hineinreicht und sich dadurch auszeichnet, dass dort vor allem Turksprachen gesprochen werden; es reicht bis ins chinesische Xinjiang, das bei pantürkischen Nationalisten „Ost­turkestan“ heißt.

In diesem Gebiet die türkischen Positionen zu stärken, es vielleicht gar zu einem türkischen Einflussgebiet zu machen – das ist ein Ziel pantürkischer Nationalisten, auf die sich die AKP-Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdog˘an stützt. Erdog˘an hat sich das Ziel zu eigen gemacht und betreibt systematische Einflussarbeit in Zentralasien, wozu der Ausbau von Verkehrskorridoren in die Region gehört. Als günstig erweist sich, dass vor Jahren schon China die Region in den Blick genommen hat: als „Mittleren Korridor“ der Neuen Seidenstraße zwischen dem Nordkorridor, der durch Kasachstan und Russland verläuft, und der Maritimen Seidenstraße, dem Seeweg durch den Indischen Ozean ins Mittelmeer. Der Mittlere Korridor verläuft über Kasachstan und das Kaspische Meer nach Aserbaidschan und von dort weiter über Georgien in die Türkei. Über ihn lief bis zum 24. Februar dieses Jahres nur ein vergleichsweise geringes Transportvolumen; seitdem schnellen aber die Transportvolumina, die durch den Mittleren Korridor geleitet werden, rasant in die Höhe: Es geht darum, wegen des Krieges und der Sanktionen russisches Territorium zu meiden.

Die Türkei und Aserbaidschan haben seit geraumer Zeit im Mittleren Korridor eine Art Abkürzung im Visier, die den Bogen über Georgien vermeiden und Aserbaidschans Häfen am Kaspischen Meer in direkter Linie mit der Osttürkei verbinden würde: den Zangezur-Korridor. Er verläuft über armenisches Territorium entlang der Grenze zwischen Armenien und Iran und endet in der zu Aserbaidschan gehörenden Exklave Nachitschewan, die ihrerseits im Westen an die Türkei grenzt. Die Route ist nicht nur kürzer, sie beschränkt sich auch – sofern es Aserbaidschan gelingt, den Zangezur-Korridor unter Kontrolle zu bekommen – auf turksprachige Staaten und trüge so zur Festigung der Turkstaaten-Kooperation bei. Im Juli einigten sich die Türkei, Aserbaidschan und Kasachstan, ihre Infrastrukturverbindungen systematisch auszubauen. Dass Armeniens Präsident Nikol Paschinjan in einer Erörterung von Aserbaidschans Kriegsgründen den Zangezur-Korridor nannte, passt ins Bild.

Ein Resultat des Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020 war, dass Russland den Waffenstillstand garantierte. Damit waren die westlichen Mächte, die sich bis dahin über die Minsk Group der OSZE Einfluss zu sichern versucht hatten, außen vor. Dass nun erneut ein Krieg auszubrechen droht, während Russland in der Ukraine Krieg führt, ist für Moskau durchaus unangenehm: Die Frage stellt sich ja, ob es noch das Potenzial hat, als Garantiemacht für den Waffenstillstand aufzutreten. Entsprechend hat sich Präsident Wladimir Putin sofort persönlich in die Gespräche eingeschaltet; Ende vergangener Woche erklärte er, Russlands Einfluss im Südkaukasus genüge weiterhin, um ein Aufflackern der Kämpfe zu unterbinden. Allerdings haken die westlichen Staaten nach: Sowohl die EU als auch die USA haben Diplomaten und Politiker nach Eriwan und nach Baku entsandt, um nach neuen Einflusschancen zu suchen. Damit flammt womöglich auch der äußere Einflusskampf um den Südkaukasus wieder auf.

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"Kampf um Einflusssphären", UZ vom 23. September 2022



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