Erst die Ostsee, dann das Schwarze Meer: Im Rahmen ihrer „Defender-Europe“-Manöverserie arbeiten die USA zentrale Konfliktregionen des Machtkampfs gegen Russland systematisch ab. Stand beim Auftaktmanöver, bei „Defender Europe 20“, der Aufmarsch der Streitkräfte in Richtung Baltikum im Mittelpunkt, so geht es in diesem Jahr vor allem um die Verlegung von Truppen nach Südosteuropa und in die Schwarzmeerregion. Letztere besitzt für beide Konfliktparteien – für den Westen wie auch für Russland – hohe strategische Bedeutung.
Für Moskau geht es im Schwarzen Meer, ganz wie im Baltikum, zunächst einmal um die eigene Sicherheit. Russland grenzt schließlich direkt an das Gewässer. Die Region, so hat es bereits 2020 die US-amerikanische RAND Corporation in einer ausführlichen Studie analysiert, nimmt in den Bestrebungen der Moskauer Regierung, „Einfluss und Kontrolle entlang Russlands Peripherie wiederherzustellen“ und „die westlichen Einflüsse dort zu begrenzen“, einen zentralen Stellenwert ein. Hinzu kommt, dass das Schwarze Meer eine wichtige Ausgangsbasis für Operationen der russischen Marine ist. Alternative Häfen sind weit entfernt – sie liegen an der Ostsee, an Russlands Nordküste, am Pazifik. Die Schwarzmeerflotte, so konnte man es im November 2018 etwa in dem Fachblatt „MarineForum“ lesen, bilde „das strategische Rückgrat der Machtprojektion Russlands über den Bosporus hinaus ins östliche Mittelmeer und den Nahen Osten“. Sie habe zentrale Bedeutung nicht nur zur „Verteidigung der russischen Südflanke“, sondern auch für die „Ausdehnung russischen Einflusses nach Südosteuropa und bis zur Levante“.
Die USA sowie die Staaten der EU haben ihrerseits starke Interessen in der Schwarzmeerregion. Zum einen sind nicht nur einige EU- beziehungsweise NATO-Mitglieder Anrainer des Gewässers, sondern mit der Ukraine und Georgien auch zwei Länder, um die ein erbitterter Machtkampf zwischen dem Westen und Russland tobt. Hinzu kommt, dass die Region große Bedeutung für den Transport von Energierohstoffen aus Zentralasien in Richtung Westen besitzt: Die BTC-Pipeline (Baku-Tbilissi-Ceyhan) leitet Erdöl aus dem Kaspischen Becken durch Georgien und die Türkei ans Mittelmeer. Zugleich queren aber auch Erdgaspipelines aus Russland in die Türkei das Schwarze Meer. Vor kurzem hat Frederick „Ben“ Hodges, von 2014 bis 2017 Kommandeur der U. S. Army Europe, ein Strategiepapier zum Schwarzen Meer vorgelegt. Darin definiert er die Region als eine, in der sich Einflüsse aus vier Weltgegenden treffen: aus Russland im Norden, aus China im Osten, aus transatlantischen Gefilden im Westen, aus dem instabilen Nahen und Mittleren Osten im Süden. Derzeit müsse sich der Westen im Schwarzen Meer vor allem gegen Russland durchsetzen.
Hodges hat sich auch zur Frage geäußert, wie dies geschehen soll. Kontrolle über das Schwarze Meer werde der Westen kaum erlangen können, urteilt der ehemalige US-General. Zumindest in Friedenszeiten beschränke der Vertrag von Montreux aus dem Jahr 1936 den Spielraum der NATO. Das Abkommen sieht vor, dass sich Kriegsschiffe aus Nichtanrainerstaaten maximal 21 Tage lang im Schwarzen Meer aufhalten dürfen. Große Kriegsschiffe, Flugzeugträger etwa, aber auch U-Boote dürfen überhaupt nicht durch den Bosporus und die Dardanellen in das Gewässer einlaufen. Hodges schlägt deshalb vor, zwar gewiss nicht auf NATO-Aktivitäten im Schwarzen Meer zu verzichten, schwerpunktmäßig aber die eigenen Kräfte darauf zu orientieren, die russische Schwarzmeerflotte „verletzlich“ zu machen – etwa mit der Stationierung von Drohnen und Antischiffsraketen in NATO-Anrainerstaaten, insbesondere in Rumänien. Gleichzeitig sei es wichtig, eigene Truppen im Falle der militärischen Eskalation des Konflikts so schnell wie möglich ans Schwarze Meer verlegen zu können. Die „militärische Mobilität“ aus Westeuropa und aus dem Mittelmeer „über die Karpaten“ müsse dazu dringend verbessert werden. Damit hat Hodges die zentralen Ziele von „Defender Europe 21“ klar definiert.