Beschäftigte in Kliniken, Schulen und Kitas haben gezeigt, dass sich Widerstand lohnt

Kampf dem Rollback

Lisa lässt sich auf einen Stuhl in der Küche sinken. Sie hat gerade ihre Tochter in die Kita gebracht. Die Kleine freut sich, dass sie dort endlich wieder Freunde zum Spielen hat. Doch Lisa ist besorgt. Sie arbeitet als Pflegerin – Nachtschicht. Sie ist zwar inzwischen geimpft, ganz geheuer ist ihr die Sache aber nicht. Was, wenn sie sich trotzdem infiziert? Aus dem Wohnzimmer ruft ihr Sohn. Er sitzt an seinen Schulaufgaben und kommt nicht weiter. Die Mama muss ran, ihr Mann hat die Geduld verloren. Nach zehn Monaten Kurzarbeit sind seine Nerven dünn geworden. Anfangs kam er gut mit seiner neuen Rolle zurecht, inzwischen muss Lisa beim Home-Schooling immer häufiger helfen. In der vergangenen Woche fanden ganze zwei Stunden Präsenzunterricht statt. Das war eine sehr kurze Verschnaufpause, von der nicht viel geblieben ist.

Julia arbeitet in einem Frauenhaus in Niedersachsen. Sie muss jeden Tag verzweifelten und hilfesuchenden Frauen absagen. Es gibt keine Plätze und keine Zeit, sich zu kümmern. Lockdown, beengte Wohnverhältnisse, Beschäftigungslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse haben zu einer Zunahme von häuslicher Gewalt geführt. Schon seit Jahren gibt es zu wenige Plätze in Frauenhäusern oder sie werden ganz geschlossen. Weil Sozialwohnungen fehlen, ist der Weg, der aus diesem maroden Hilfesystem führt, versperrt.

So wie Lisa und Julia geht es Millionen Frauen der Arbeiterklasse. Die Doppelbelastung durch Beruf und Familie hat sich in der Pandemie deutlich verschärft. Selbst in Beziehungen, wo der Versuch unternommen wird, sich die Aufgaben zu teilen, nimmt der Stress für Frauen zu. Dabei handelt es sich nicht um vereinzelte Erfahrungen. In einer aktuellen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) stellen Yvonne Lott und Aline Zucco fest, dass die Mehrbelastung von Frauen bei der Erwerbsarbeitszeit (Gender Time Gap) in der Pandemie zugenommen hat. Vor allem Mütter reduzierten demnach ihre Arbeitszeit im Job, um bei geschlossenen Schulen und Kitas Kinder zu betreuen.

Die Wissenschaftlerinnen sehen Indizien dafür, dass der Gender Pay Gap, also der Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen, durch die Krise geschrumpft sein könnte. Das wäre jedoch keine Verbesserung, sondern eine Angleichung nach unten. In der ersten Welle der Pandemie seien mehr Männer als Frauen arbeitslos geworden oder in Kurzarbeit geschickt worden, ihr Einkommen habe sich entsprechend verringert. Lott und Zucco rechnen allerdings damit, dass es sich nur um einen kurzfristigen Effekt handelt.

Der französische Sozialist Fourier hat den Grad der Gleichberechtigung der Frauen als Maß der allgemeinen Gleichberechtigung einer Gesellschaft beschrieben. Seit 2005 werden wir von einer Bundeskanzlerin regiert. Es gibt eine EU-Kommissionspräsidentin und einen Gesetzentwurf für eine Frauenquote in Vorständen börsennotierter Unternehmen.

Zusammen mit etwas Kosmetik soll dieses Blendwerk den Rollback verschleiern. Die Erfolge der Frauenbewegung werden von der Offensive des Imperialismus kassiert. Ein Beispiel: Kristina Hänel informierte auf der Website ihre Arztpraxis über Methoden des Schwangerschaftsabbruchs. Seit Beginn des Jahres ist sie rechtskräftig wegen Werbung für Abtreibungen verurteilt. Frauen sind von der wachsenden Armut besonders betroffen. Sie müssen die Kinder im Zweifel als Alleinerziehende durchbringen. Durch Teilzeitarbeit und Unterbrechungen in der Erwerbsarbeit haben sie geringere Renten und die Gefahr von Altersarmut ist deutlich höher. Sie bekommen keine Hilfe, aber Kinder kriegen sollen sie trotzdem. Das ist die Botschaft der Verurteilung Hänels.

Die Gewerkschaft ver.di, in der mehr als die Hälfte der Mitglieder Frauen sind, hat in den vergangenen Jahren deutlich gemacht, dass es sich lohnt, zu kämpfen. Besonders Frauen in den Berufen des Gesundheitswesens und Erzieherinnen haben es den Männern vorgemacht. Die Arbeiterklasse wird sich nur gemeinsam mit ihrer weiblichen Hälfte befreien können.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Kampf dem Rollback", UZ vom 5. März 2021



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Haus.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit