Regionale Kriege in Osteuropa und Südwestasien um die Ordnung der Welt. Der eigentliche Konflikt steht noch aus

Kampf auf dem globalen Schlachtfeld

Seit Beginn der Großen Krise des Neoliberalismus – besser: der neoliberalen Verwertungsform – Anfang dieses Jahrhunderts hat sich die Welt dramatisch verändert. Das US-Imperium und seine Vasallen führten zahlreiche Kriege zum Auf- und Ausbau der unipolaren Weltordnung. Diese Kriege, nach dem 11. September 2001 „Global War on Terror“ („Krieg gegen den Terror“) genannt, hatten die Aufgabe, das globale Schlachtfeld oder „Schachbrett“ (Zbigniew Brzezinski) für den eigentlichen Konflikt, den Kampf gegen die eurasischen Herausforderer, vorzubereiten. Dieser Konflikt, seit 2017 „Great Power Competition“ (Wettbewerb der Großmächte) genannt, wird aktiv vorangetrieben seit der „Wende nach Asien“, die Hillary Clinton 2011 ausgerufen hatte. Er hat in Osteuropa und in Südwestasien (Naher/Mittlerer Osten) die Form regionaler Kriege angenommen. Der eigentliche Konflikt steht noch aus: Der von den China-Falken der US-Neokonservativen geplante und vorbereitete Krieg gegen die Volksrepublik China.

Der „Krieg gegen den Terror“ lief nicht gut. Die selbsternannte „Einzige Weltmacht“ konnte mit diesem 8-Billionen-Dollar-Unternehmen zwar ganze Regionen zerstören und Millionen Menschen umbringen, sie scheiterte aber an der Errichtung einer stabilen imperialen Ordnung, einer Pax Americana. Die Stellvertreterkriege gegen die eurasischen Hauptmächte erscheinen eher wie ein verzweifeltes Aufbäumen gegen den drohenden Abstieg des letzten Imperiums, welches die 500-jährige europäisch-nordamerikanische Vorherrschaft in der Welt hervorgebracht hat. Die zahllosen Kriegsverbrechen, die Implementierung von Folter und Zensur haben die seit dem Zweiten Weltkrieg so mühsam errichtete imperiale Soft-Power zerstört, die waffenstarrende Komplizenschaft bei den israelischen Massenmorden gibt ihr den Rest.

Geostrategie – Produkt des Imperialismus

Aber der Reihe nach. Mit der He­rausbildung des kapitalistischen Imperialismus im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstand in seinen Hauptstaaten die Notwendigkeit, wissenschaftliche Grundlagen für ihre Machtprojektion zu schaffen. Vor allem Militärs und Geographen wandten sich diesem Thema zu, als gegen Ende des 19. Jahrhunderts klar wurde, dass die Abgrenzung der jeweiligen Macht- und Inte­ressengebiete in einer völlig aufgeteilten Welt vor allem eine Frage von Großmachtfähigkeiten sein würde. Es ging zukünftig also nicht nur da­rum, wehrlose Völker zusammenschießen zu können, sondern auch darum, gegen gleichwertige, möglicherweise überlegene Mächte bestehen, möglichst gewinnen zu können. Es bildete sich eine Aufteilung der Welt in zwei imperiale Machtblöcke heraus. Das seit dem Siebenjährigen Krieg 1756 bis 1763 dominierende Britannien sah Ende des 19. Jahrhunderts angesichts der aufstrebenden Mächte in Zentral­europa die militärisch-ökonomische Basis seiner globalen Dominanzposition schwinden und begann sich an die ebenfalls aufstrebenden USA anzulehnen.

1904 schrieb der britische Geograph Halford Mackinder einen Aufsatz „Der geographische Angelpunkt der Geschichte“. Er betrachtete darin die Bedeutung von Geographie, Technik, Wirtschaft, Industrie sowie Rohstoff- und Bevölkerungsressourcen für die Bewertung von globalen Machtverhältnissen, speziell für die Aufrechterhaltung der britischen Weltmachtposition. Sein Kerngedanke ist die „Heartland-Theorie“, die eine hierarchische Struktur der Welt annimmt, deren wichtigstes, bevölkerungsreichstes Zentrum, die „Weltinsel“, aus Europa, Asien und Afrika besteht. Innerhalb dieser „Weltinsel“ gibt es ein Schlüsselgebiet, das „Heartland“ (Zentralasien, von der Wolga bis zum Jangtsekiang und vom Persischen Golf bis zum russischen Nordmeer), welches für die Beherrschung der Welt entscheidend ist. Sowohl Britannien als auch die USA befinden sich außerhalb der „Weltinsel“. Wie sie zu beherrschen ist, ist das zentrale angloamerikanische Strategie-Thema der letzten 120 Jahre. In dem um die Arabische Halbinsel erweiterten Raum befinden sich rund 70 Prozent der globalen Erdgas- und Erdölvorräte. Und hier fand folglich der „Krieg gegen den Terror“ statt.

Angelehnt an Mackinder hat US-Stratege Zbigniew Brzezinski 1997 in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ einen nun „Eurasischer Balkan“ genannten geostrategisch zentralen Raum in den Fokus gerückt. Mit der Auflösung der So­wjet­union war die Gelegenheit gekommen, die seit langem geplante „Neuordnung des Nahen/Mittleren Ostens“ durch den „Krieg gegen den Terror“ endlich in Angriff nehmen zu können, die „sowjetnahen Regime“ zu beseitigen und widerspenstige Player vom „Schachbrett“ zu nehmen. Wie ehemals London, so sah auch Washington seit dem „Sechs-Tage-Krieg“ (1967) in den zwar schwer zu kontrollierenden, aber absolut hemmungslosen Zionisten eine durchsetzungsstarke Hilfstruppe.

Innerimperialistischer Machtkampf

Deutschland und seine Verbündeten hatten die angloamerikanische Suprematie im Zweiten 30-jährigen Krieg (1914 bis 1945) herausgefordert und die Vereinigung Europas plus der westlichen So­wjet­union durch Krieg und Kolonisation herstellen wollen. Japan beabsichtigte Ähnliches mit Ostasien und Ozeanien. Beide Mächte legten 1942 den 70. Grad östlicher Länge (Zentralasien) als Abgrenzung ihrer Inte­ressen in einem Vertrag fest. Die Angloamerikaner hatten die Vereinigung des eurasischen Raumes unter dem Hakenkreuz als existentielle Bedrohung gesehen und dagegen sogar ein Bündnis mit den verhassten Bolschewiki geschlossen. Ein Bündnis, das nach der mit 27 Millionen toten Sowjetbürgern teuer erkämpften Zerschlagung des Faschismus durch hauptsächlich die Rote Armee prompt aufgekündigt und in einen Zustand des Kalten Krieges rückverwandelt wurde, bei dem auch die Faschisten wieder hoffähig wurden.

Ab 1946 ging es gegen die Vereinigung des eurasischen Raumes unter der Roten Fahne. Der Kalte Krieg, der globale US-Machtaufbau, verkleidet als Kampf gegen die „kommunistischen Kinderfresser“, war für das US-Imperium das ideale Terrain zur Festigung ihrer Führerschaft, zunächst unter den kapitalistischen Staaten, nach 1991 als globale Suprematie. Da hierfür die Existenz eines dämonisch omnipotenten Feindbildes unabdingbar ist, wurde ein Hitler, ein Stalin, ein Goebbels nach dem anderen geboren.

Die nun zur kapitalistischen Vormacht aufgestiegenen USA sahen in der So­wjet­union die entscheidende Macht, welche ihre geostrategische Vormachtposition und die Ausbeutungsordnung des angloamerikanischen Finanzkapitals bedrohen könnte. Sie war daher, analog der 1940er Jahre, in den 1970ern bereit, sich mit allen und jedem, sogar mit den verhassten chinesischen Kommunisten, gegen Moskau zu verbünden. In diesem Powerplay stiegen die sowjetischen Militärausgaben laut Wladimir Putin Mitte der 1980er Jahre auf untragbare 13 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Eine zivilgesellschaftliche Entwicklung war dadurch nicht mehr möglich.

Errichtung der Unipolarität

Russland ist aufgrund seiner schieren Größe und militärischen Stärke seit rund 250 Jahren der strategische Gegner des westlichen Imperialismus und Kolonialismus. Seit Napoleon (1812) hat es zahlreiche vergebliche Versuche gegeben, dieses Problem zu „lösen“. Nach der Auflösung des Warschauer Vertrages und der So­wjet­union mobilisierte Washington den „Cordon sanitaire“, jene Kette neugeschaffener antikommunistischer Staaten, mit dem die Siegermächte des Ersten Weltkriegs die russische Revolution von Finnland bis zum Balkan eindämmen wollten. Diesmal aber gegen das kapitalistische Russland, den neuen, alten geostrategischen Gegner. Auch Präsident Putin hat das auf die harte Tour lernen müssen, nachdem er zunächst dachte, dass ein rekapitalisiertes Russland im Konzert des Westens würde mitspielen können.

China, die zweite eurasische Großmacht, hatte seine Souveränität in den Opiumkriegen (1839 bis 1842/1856 bis 1860) verloren und erst nach der Revolution 1949 zurückgewinnen können. Allerdings nun als völlig zurückgebliebenes, verarmtes Land, das nicht fähig war, die nachholende Industrialisierung im sowjetischen Stil zu schaffen. Richard Nixon und Henry Kissinger hatten 1970/72 leichtes Spiel, Mao Zedong von einer einträglichen Weltbank- und IWF-gesponsorten antisowjetischen Kumpanei zu überzeugen. Diese strategische Variante hatte 1991 ihre materielle Grundlage verloren. Da sie aber für das angloamerikanische Finanzkapital eine überaus profitable Geschäftsgrundlage darstellte, blieb der Deal bis 2011 – als Hillary Clinton „Amerikas pazifisches Jahrhundert“ ausrief – bestehen. China hatte Japan überholt und war zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen.

Iran besetzt eine Schlüsselposition zwischen Zentralasien und den Golfstaaten. Durch das energiereiche, ökonomisch und militärisch wichtige Land laufen die strategisch bedeutendsten Transitkorridore sowohl in Ost-West-Richtung als auch in der Nord-Süd-Magistrale. Seit der Revolution 1979 beugt sich Iran nicht mehr den Direktiven aus Washington und gilt daher als Feind par excellence, der, wie schon 1953, beseitigt werden muss. Gleichzeitig ist Iran von zentraler Bedeutung für BRICS, die Belt and Road Initiative und die Shanghai Cooperation. Es ist von großer Bedeutung, dass China einen Neuansatz im Verhältnis von Iran zu den Golfstaaten vermitteln konnte. Russland, Iran und China haben sich heute zu einer engen De-facto-Allianz zusammengeschlossen.

Die Installierung von Marionettenregimen wie in Kiew oder Taipeh oder das „Bündnis“ mit den Zionisten in Tel Aviv ist natürlich nicht widerspruchsfrei. Die Basisüberlegung war, dass die massenmordbereiten Zionisten das richtige Personal waren, um das schmutzige Geschäft des britischen Kolonialismus in einer der wichtigsten Regionen der Erde zu besorgen. Ebenso wie es nach dem Putsch 2014 in Kiew die ukrainischen Nationalisten und Faschisten waren, oder nach der erfolgreichen „Entmachtung“ der Guomindang Washingtons Marionetten der Demokratischen Fortschrittspartei in Taiwan. Zwar sind alle drei Akteure und zahlreiche wichtige andere im näheren und weiteren Umfeld mehr oder weniger stark von der materiellen, diplomatischen und propagandistischen „Hilfe“ des Imperiums abhängig. Das begründet allerdings keine Inte­ressen­identität. Vor allem die Zionisten haben massive Eigeninteressen, welche unter anderem ein militärisch zu eroberndes, religiös-historisch „begründetes“ „Eretz Israel“ fordern. Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich hat dieses weitreichende expansive Ziel zuletzt in einer Arte-Dokumentation im Oktober 2024 öffentlich vertreten. Wenn überhaupt, wäre dieses Ziel nur durch einen gewaltigen, möglicherweise atomaren Krieg zu erreichen, der die gesamte Region in Schutt und Asche legen würde. Der Krieg gegen Libanon, die Inszenierung eines „Gaza 2.0“, ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. Das Kabinett Netanjahu hat die Vorstellung, sich in einem begrenzten Zeitfenster zu befinden, in dem dies möglich ist.

Dieser religiös-eschatologische Extremismus führt seit 1948 zu Mordprogrammen, militärischen Aggressionen, Völkermord und unbeschreiblichen Gräueln. Die zionistische Terrororganisation Lechi ermordete 1948 selbst den UN-Gesandten Folke Bernadotte. Bernadotte hatte über 30.000 Gefangene aus dem KZ Theresienstadt gerettet und sollte nun im israelisch-palästinensischen Konflikt vermitteln. Die Zionisten wollten und wollen keine Vermittlung, sondern „Eretz Israel“.

Ob das auch für Washington eine gute Idee ist, ist eine andere Frage. Nach dem Scheitern des „Projekts Ukraine“ droht den USA durch die bedingungslose Unterstützung des zionistischen Extremismus der Verlust jeglichen Einflusses im muslimisch-arabischen Raum, dem extrem wichtigen „Eurasischen Balkan“, ja im Globalen Süden insgesamt. Wie in Osteuropa entwickelt sich auch in Südwestasien eine Lage, in der der „Westen“ konventionell nicht mehr gewinnen kann und daher der Griff zur Bombe „logisch“ erscheint. Das Problem ist, dass hier keine rationalen Akteure vorausgesetzt werden können.

Herausbildung der Gegenkräfte

2009 wurde die BRIC-Organisation (Brasilien, Russland, Indien, China) gegründet. 2010 kam Südafrika hinzu. Heute sind China, Russland und Iran zusammen die mit Abstand größte globale Industriemacht. Die Rohstoff- und Militär-Großmacht und der aufstrebende Energie- und Logistikknotenpunkt sind die entscheidenden Faktoren für das wachsende Selbstbewusstsein und die beginnende Souveränität des Globalen Südens. Der BRICS-Gipfel in Kasan vom 22. bis 24. Oktober (endet nach Redaktionsschluss von UZ) ist daher eine maximale Provokation für Washington. BRICS ist ein klarer Verstoß gegen die Wolfowitz-Doktrin von 2001: „Die militärische und politische Mission der Vereinigten Staaten in der Zeit nach dem Kalten Krieg sollte darin bestehen, dem Entstehen einer feindlichen Supermacht in Westeuropa, Asien oder der ehemaligen So­wjet­union entgegenzuwirken.“ Eine Forderung, die Brzezinski schon 1997 in aller Klarheit formuliert hatte. Reichlich Gründe für Washington, 2017 die „Great Power Competition“ auszurufen und den Krieg gegen die Kernländer von BRICS vorzubereiten.

In den Hochzeiten der antikolonialen und antiimperialen Bewegung der 1960er, 1970er und 1980er Jahre standen die US-Imperialisten, die israelischen Rassisten ebenso wie die südafrikanischen, am Pranger der öffentlichen Meinung. Im gewaltigen gesellschaftlichen Rollback nach 1991 konnte die imperiale Bewusstseinsindustrie diese Verbrechen nahezu zum Verschwinden bringen und stattdessen die Unterstützung der Zionisten zur „deutschen Staatsräson“ erklären und jegliche antizionistische Kritik als antisemitisch brandmarken. Die antikoloniale und antiimperiale Bewegung war historisch schwach.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich das Kräfteverhältnis in der Welt dramatisch verändert, wie sich außerhalb des „10-Prozent-Westens“ im erwachenden Selbstbewusstsein der „Globalen Mehrheit“ zeigt. Auch das aktuelle BRICS-Treffen in Kasan wird eine Manifestation dieses Veränderungsprozesses sein. Das Imperium und seine Vasallen können zwar noch Frauen und Kinder umbringen, aber Kriege gewinnen, den eigenen Niedergang verhindern können sie schon lange nicht mehr.

Eine Einschätzung von Klaus Wagener zum BRICS-Gipfel in Kasan folgt in der kommenden Ausgabe von UZ.

Weitere Beiträge im UZ-Dossier:
unsere-zeit.de/brics

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"Kampf auf dem globalen Schlachtfeld", UZ vom 25. Oktober 2024



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