Lahn-Dill-Kreis stellt Warmwasser in Turnhallen ab

Kalt Duschen gegen Russland

Endlich! Der Appell „Frieren für die Freiheit“ von Joachim Gauck wurde erhört. Im März erntete der Alt-Bundespräsident in den sozialen Medien noch heftige Kritik für seinen verbalen Beitrag zum Wirtschaftskrieg gegen die Russische Föderation. Seit der vergangenen Woche heißt es jetzt für die Schüler und Sportler im Lahn-Dill-Kreis „Frieren für den Krieg“. Der mittelhessische Landkreis hat zum 1. Juni in allen Schulen und Sporthallen das warme Wasser abgedreht. Man wolle „ein Zeichen setzen und Energiekosten sparen“, heißt es aus der Kreisverwaltung.

Der Lahn-Dill-Kreis will innerhalb von 14 Wochen rund 100.000 Euro einsparen, indem er in den Schulen und kreiseigenen Turnhallen die Heizungs- und Warmwasseraufbereitungsanlagen abschaltet. Aufgrund der stark angestiegenen Energiekosten kommt zwischen dem 1. Juni und dem 18. September kein warmes Wasser mehr aus den Duschen und Wasserhähnen. Den Beschluss des Kreisausschusses teilte der Kreis immerhin einen Tag vor dem Warmwasser-Stopp mit. „Die Duschen in den Turnhallen werden kaum von Schülerinnen und Schülern genutzt. Es sind eher die Vereinssportlerinnen und -sportler, die regelmäßig von der Duschmöglichkeit Gebrauch machen. Hier bitten wir um Verständnis“, teilte Vize-Landrat und Kreis-Schulbaudezernent Roland Esch von der „Freien Wählergemeinschaft Lahn-Dill“ gegenüber dem „Hessischen Rundfunk“ mit.

Auf Basis des Verbrauchs in den vergangenen Jahren habe die Schulbauabteilung des Lahn-Dill-Kreises berechnet, dass das Abschalten in den Sommermonaten Energiekosten von rund 100.000 Euro einspare. „Es handelt sich um eine zeitlich befristete Sparmaßnahme, die angesichts der aktuellen Situation verhältnismäßig und zumutbar sei“, so Landrat Wolfgang Schuster (SPD). Man wolle ein Zeichen setzen und gerade als Verwaltung deutlich machen, dass die eklatanten Preisanstiege im Energiesektor kaum tragbar seien. Ob sich dazu neben den Schulen und Turnhallen auch weitere öffentliche Gebäude des Kreises zum Energiesparen eignen, werde derzeit geprüft.

Dass die politisch Verantwortlichen auch eine Deckelung der Energiepreise – insbesondere für Gering- und Normalverdiener – prüfen, ist hingegen nicht bekannt. Auch unter den Erstunterzeichnern der bundesweiten Energiepreisstopp-Kampagne der DKP finden sich keine prominenten Vertreter des Lahn-Dill-Kreises.

Was sich nach einer Provinzposse anhört, hat angesichts der Folgen von Energieembargo und Wirtschaftskrieg einen ernsten Hintergrund. Kalte Duschen sind nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs. Galoppierende Energie- und Nahrungsmittelpreise werden für immer mehr Menschen im Land zu einem existenziellen Problem. Nach der jüngsten Umfrage des „ARD“-Deutschland-Trends müssen sich 47 Prozent der Befragten nach eigener Aussage im Alltag sehr stark oder stark einschränken. Das gilt mit 77 Prozent besonders für Haushalte mit geringem Einkommen. Aber auch 59 Prozent in Ostdeutschland geben an, dass sie sich angesichts einer Inflationsrate von 7,9 Prozent einschränken müssten.

Kein Wunder, dass der von Gauck mit den Worten „Für die Freiheit auch einmal frieren“ geforderte Importstopp für russische Energie jenseits der besserverdienenden Grünen und wirtschaftsliberalen Stammwählerschaft auf wenig Gegenliebe stößt. Beispielhaft für viele hat ein User auf Twitter die Kritik an Vorstellungen des ehemaligen Pastors auf den Punkt gebracht. „Keiner von denen, die von ‚Wir können‘ und ‚Wir müssen‘ sprechen, hat wirklich ernsthafte Konsequenzen und Einbußen zu erwarten. Diejenigen, die von allen Bürgern erwarten, jetzt ‚für die Freiheit zu frieren‘, sind meistens auch diejenigen, die niemals frieren müssen.“

Für alle anderen ist Energiesparen angesagt – „jeder und jede an seinem Platz“, wie es EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) bereits im März einforderte. In Kriegszeiten scheint – nicht nur für die Menschen im Lahn-Dill-Kreis – Frieren für den Krieg erste Bürgerpflicht zu sein. Irgendwo müssen die 100 Milliarden für das Sondervermögen zur Aufrüstung der Bundeswehr ja herkommen.

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"Kalt Duschen gegen Russland", UZ vom 10. Juni 2022



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