Kaliningrad Gambit“ (Kaliningrader Eröffnung) überschrieb Ende Januar die US-Militärzeitschrift „Overt Defense“ einen Artikel, der sich mit der aktuellen NATO-Strategie für einen möglichen Krieg auf dem Baltikum auseinandersetzte. Was früher „Vorneverteidigung“ hieß, wandelt sich zum Einstiegsszenario in den nächsten Weltkrieg.
In den Augen der NATO-Strategen kommt dabei der an der Ostsee gelegenen russischen Exklave Kaliningrad eine Schlüsselrolle zu. Im Osten grenzt das Gebiet an Litauen, im Westen und Süden an Polen, es ist damit sowohl von der EU als auch der NATO umschlossen. Die am westlichsten gelegene russische Metropole und ihr Hinterland sind von der Ausdehnung etwa so groß wie Schleswig-Holstein, nahezu eine Million Menschen leben hier.
Das wirtschaftlich vor allem in den Branchen Kraftfahrzeugbau, Schiffsbau und Elektronik prosperierende Kaliningrad, das von Russland aus seit 1991 nur durch die Luft und über die Ostsee erreicht werden kann, stand schon früh auf der Prioritätenliste der NATO. Ihre Propaganda versucht seit jeher – obschon bereits ein Blick auf die Landkarte die Einkreisung durch NATO und EU verdeutlicht – glauben zu machen, dass von Kaliningrad für Litauen und Polen eine besondere Gefahr ausgeht. Es vergeht keine Woche, in der nicht durch litauische Regierungsstellen ein grelles Bedrohungsszenario gemalt wird, das sich des immer gleichen Musters bedient: Russland habe durch die „Annektion der Krim“ 2014 seinen „aggressiven Charakter“ unter Beweis gestellt und bedrohe daher mit den etwa 50.000 in Kaliningrad stationierten russischen Soldaten auch die Unabhängigkeit Litauens. In einem Interview, das der neue litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis am 27. Januar der „Süddeutschen Zeitung“ gab, wird die inzwischen übliche antirussische Melange angerührt: von der Krim über Nawalny und Nord Stream 2 hin zum Wunsch nach Ausbau der NATO-Präsenz. Dies alles verdeckt, dass die NATO schon Mitte der 1990er Jahre die geostrategischen Festlegungen für die Zukunft des Baltikums getroffen hat: Der „USA Today“-Korrespondent Fred Coleman gab im April 1997 die künftigen Schritte des transantlantischen Bündnisses wieder, die Einbindung Litauens in die NATO-Struktur und das Ziel, Russland zu zwingen, Kaliningrad als „Bauernopfer“ fallen zu lassen.
Die NATO geht von der Annahme aus, dass regional begrenzte Kriege führbar seien und durch regional begrenzte Präventivangriffe einem atomaren Gegenschlag zuvorgekommen werden kann. Die aktuelle Studie spricht deshalb unter dem militärischen Primat „Schnelligkeit und Überraschung“ von vier Schritten zur „Liquidation Kaliningrads“: Ausschaltung der Luftabwehr und der Abschussvorrichtungen für Nuklearprojektile, Blockade der Häfen, Zerstörung der militärisch nutzbaren Infrastruktur durch NATO-Luftwaffe und Artillerie, Vernichtung der russischen Truppen, die aufgrund der Abriegelung der Grenzen durch Polen und Litauen keine Ausweichmöglichkeiten hätten. Die Studie spekuliert darauf, dass Russland in einem solchen Fall die Exklave Kaliningrad aufgeben werde.
Deutschland beteiligt sich seit 2017 an der NATO-Battlegroup Litauen. Mit dem leicht zu durchschauenden Sprachspiel, es sei lediglich die Teilnahme an einer Übung, aber eben kein klassischer Auslandseinsatz, und der Konstruktion, jedes halbe Jahr jeweils 500 deutsche Soldaten durch neue auszutauschen („Rotation“), wurde der Zustimmungsvorbehalt des Bundestags unterlaufen. Den in Rukla (Litauen) stationierten Panzer- und Artillerietruppen fällt im Kriegsfall die Zerstörung von Bodenzielen zu. Aktuell befindet sich das Panzerbataillon 104 aus der Oberpfalz in Litauen. Auf der Internetseite der Bundeswehr beschreibt das Bataillon sein Motto: „Nur der Angriff bringt den Erfolg.“