Zum 100. Todestag

Kafka proletarisch lesen

Mesut Bayraktar

„Nur die Gewalt des Lebens fühle ich“, schreibt Franz Kafka 1913 in sein Tagebuch. Durch seine Eltern entdeckt der Schriftsteller Mesut Bayraktar die oft interpretierte Literatur Kafkas neu: als Parabel für die Leiden der Arbeiterklasse.

Das Gleichnis könnte von Wladimir Iljitsch Lenin kurz nach dem Ausbruch des Weltkriegs 1914 stammen: „Das Pferd des Angreifers zum eigenen Ritt benützen. Einzige Möglichkeit.“ Ich stelle mir vor, wie der Revolutionär es nach einem der langen Tage in der Züricher Zentralbibliothek mit müden Augen auf ein Stück Papier notiert: die sozialistische Revolution, zusammengedrängt in ein dialektisches Bild. Gleichnisse konnte er ja, etwa über das Besteigen hoher Berge. Nach kurzer Überlegung fügt er hinzu: „Aber was für Kräfte und Geschicklichkeiten verlangt das? Und wie spät ist es schon!“ Im doppelten Sinn. Er packt seine Sachen, um am nächsten Tag wieder über Auswege aus dem Krieg nachzusinnen.

Das Gleichnis notierte ein zu Lebzeiten weitgehend unbekannter Anwalt am 9. März 1922, Franz Kafka, angestellt bei einer Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt in Prag, wo er täglich mit dem Leid zerschundener Körper von Menschen aus der arbeitenden Klasse konfrontiert wurde: zum Beispiel mit mangels Arbeitsschutzgesetzen durch Hobelmaschinen verstümmelten Händen. Zwei Jahre später starb der Schriftsteller im Alter von vierzig Jahren, am 3. Juni 1924. Todesursache war eine Infektionskrankheit: Tuberkulose. Vielleicht hatte er sich durch die Tröpfchen eines hustenden Arbeiters angesteckt, der bei ihm am Schreibtisch gesessen hatte, um eine Unfallrente zu beantragen; vielleicht während seiner Zeit als glückloser Mitbesitzer einer Asbestfabrik.

Viele Mythen, auch rührselige

„Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder“, soll Kafka auf dem Sterbebett dem Arzt zugerufen haben. Schlussworte wie aus einem Drama, das sich noch als Prolog entpuppen sollte. Denn erst nach seinem Tod wurden seine Texte umfassend veröffentlicht. Der 100. Todestag Kafkas ist zugleich der 100. Geburtstag seines Werks, das ein messerscharfes und vielschichtiges Gleichnis für die Lage der arbeitenden Klasse im imperialistischen Stadium des Kapitalismus darstellt.

Kann man sich Kafka als einen Bürgerlichen vorstellen? Etwa so: Kafka heiratet Felice Bauer, setzt mit ihr Kinder in die Welt. Er häuft Kapital an, wird ein erfolgreicher Geschäftsmann nach dem Vorbild seines Vaters. Unter den Todesanzeigen in einer großbürgerlichen Zeitung ist zu lesen, dass er im Alter von achtzig Jahren nach einem erfüllten Leben im engeren Familienkreis friedlich eingeschlafen sei.

Das klingt absurd, aber genau dieses Schicksal schwebte Kafka täglich vor Augen. In seinen Briefen an die Freunde sucht er Ausreden, oft verwinkelt zwischen den Zeilen. In den Briefen an Felice Bauer, mit der er zweimal verlobt war, überprüft er unter der Hand seine eigenen Zweifel an der bürgerlichen Ehe. Der Brief an den Vater, den die Mutter als Botin nicht an den Empfänger weiterreicht, liest sich wie eine Kapitulation vor der patriarchalischen Autorität der bürgerlichen Gesellschaft, „als Vater warst Du zu stark für mich“. Und die vielgerühmte literarische Qualität seiner Tagebücher im Jahrzehnt welthistorischer Umbrüche von 1910 bis 1923 gründet gerade darin, dass Kafka mit jedem Eintrag die Geschichte dieses Horrors erzählt. „Nur die Gewalt des Lebens fühle ich“, schreibt er im November 1913.

Dagegen blieb nur noch eine Form des Widerstands: das Schreiben. Ohne diese Einsicht wird man wie in den vergangenen hundert Jahren damit fortfahren, Kafka aus Lust am intellektuellen Spiel zu verrätseln. Man wird aus ihm einen Heiligen machen, wie es Max Brod tat, „besonders anstößig“, wie Walter Benjamin vermerkt. Man wird mit Albert Camus dazu neigen, in Kafka einen existenzialistischen Adepten des Sisyphos zu sehen. Oder man macht es wie Georg Lukács, der es angesichts seiner sonst scharfsinnigen Analysen besser wissen könnte: Im Bann seiner fixen Idee, den bürgerlichen Roman als Maß realistischen Schreibens postulieren zu müssen, spielt er Kafka gegen Thomas Mann aus – immerhin mit guten Argumenten. Dagegen setzt ein Schriftsteller wie Heinrich Böll den Dichter aus Prag gleich ins Visier von Panzerkanonen. Noch ein Mythos wird geboren, zumal ein rührseliger.

„Alles erscheint mir als Konstruktion“, hält Kafka 1913 fest. Das ist ein Leitgedanke, dem er in seinen Fabeln nachgeht, so sehr, dass der stumme Zwang des Wertgesetzes Menschen in Käfer verwandelt oder ein Affe die Erziehungsideale des Bürgertums mit einem Bericht seiner Menschwerdung demontiert. In seinen Erzählungen lässt er seine Figuren in Folterapparate laufen oder verhungern. Kafka ist ein Antiprophet. Seine Texte beschreiben die kapitalistische Ausbeutung als totales Gefängnis und was das für Menschen bedeutet, die darin zum Anhängsel der Maschine verdammt sind.

Baba, der Mann erzählt von dir

Mein erster Kafka-Roman: weißes Cover mit einer Zeichnung, das mich an Graffiti an Bahnhöfen erinnerte, ein Strichmännchen mit ausgestreckten Beinen und in den Schoss gelegten Armen, eingekesselt von einem Zaun, „Das Schloss“.

Von Anfang an merkte ich, dass Kafka ein Vertrauter war. Seine Beschreibungen handelten von meinem Milieu, meinen Eltern, meinem Leben. Ich erschrak, dass in seinen Sätzen dasselbe Unsicherheitsgefühl vibriert, das den Sound der Welt für Arbeiterfamilien ausmacht. Du suchst Anerkennung, vielleicht Würde, zumindest einen Platz auf dieser Erde, stattdessen wirst du im besten Fall nur geduldet, bis du beiseitegeschoben und ausgetauscht wirst. Diese Welt gehört den Besitzenden.

„Baba, dieser Mann erzählt von deinem Leben!“, sagte ich meinem Vater, als ich die Geschichte des Landvermessers las. Ich dachte an den zweitgrößten Arbeitgeber in meiner Geburtsstadt, eine deutsche Metallfirma mit rund 200 Standorten in über fünfzig Ländern. Mit raffinierter Hinhaltetaktik erpresste die Geschäftsführung jahrelang unbezahlte Mehrarbeit, im Gegenzug das Versprechen einer Standortsicherung. Am Ende wurde das Werk doch stillgelegt. Betrogen wie K., der nur so viel wissen durfte, wie die Wächter ihm zugestanden, verloren die Belegschaft und mein Vater auch wegen ihrer Gutgläubigkeit. Ohne Kampf. Die Unternehmensaktie stieg und steigt immer noch.

Nicht anders in „Der Process“: Die labyrinthische Suche von Josef K. nach den Gründen seiner Verurteilung erinnerte mich mit jeder Seite an die Suche meiner Mutter nach dem Recht, ob bei der Behörde oder beim Arzt, als ich sie zum Übersetzen begleitete, oder gegenüber Teamleitern in Werkstätten oder Versicherungsbüros, die ich mit ihr putzte – die ständige Ablehnung ihrer Anliegen. „Yalan dünya“, seufzte Mutter. „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht“, schreibt Kafka.

Als Statist im eigenen Leben

Und wenn ich noch heute in „Amerika“ blättere, sehe ich in Karl Rossmann die Rastlosigkeit meiner Brüder und Freunde, mein inneres Verschollensein, weil man schon morgen seinen Job verlieren könnte und damit seine Existenz. Nie genügt man. Lohnarbeit bedeutet auch, Statist im eigenen Leben zu sein. Anonyme Klassengewalt ist durch Zungen und Körper vermittelt.

Peter Weiss hob in seinem Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ Kafkas Bedeutung für proletarische Gegenkultur hervor. Das ist folgerichtig, erst heute aber mit Blick auf neoliberale und postdemokratische Herrschaftsstrategien zur Sicherung der Profitrate aktuell. Dann wird man die Sehnsucht nach sozialer Geborgenheit in Kafkas Literatur entdecken. Sie liegt ihr zugrunde wie das Meer unter der zugefrorenen Eisdecke.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der schweizerischen „WOZ – Die Wochenzeitung“ Nummer 20 vom 16. Mai 2024. Wir danken dem Autoren für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck.

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