In die Krisensitzung hat der Chef Kaffeefilter mitgebracht, drei Tüten voll. Dazu einen Tacker und Gummibänder. Gummiband an Kaffeefilter, fertig ist der Mundschutz.
Mia L., deren Namen wir ändern mussten, arbeitet in derselben Einrichtung wie Nadja K. (siehe Interview). Nach der Krisensitzung ist sie zurück in ihre Station gekommen und hat dem Team erklärt, wie sie ab sofort die Bewohner vor einer Infektion schützen sollen. Ein paar richtige Masken hatte die Einrichtung, in der pflegebedürftige psychisch Kranke betreut werden, zwar noch vorrätig, die sollten aber gespart werden, falls Covid-19 tatsächlich ausbricht.
Anscheinend können Kaffeefilter tatsächlich Erreger aus der Atemluft abfangen, die getackerten Filter schließen recht gut. Nur: Sie reißen schnell. In der Teambesprechung sagt Mia: Ich bringe meine Nähmaschine mit, wir nähen selbst. Diese Masken sind zwar wiederverwendbar, trotzdem braucht jeder Mitarbeiter mehrere.
Auch einen Notvorrat an Einweg-Schutzkitteln hat die Einrichtung noch. In einer Pflegeeinrichtung gibt es neben Corona auch andere, teils multiresistente Keime. Um infizierte Bewohner zu pflegen, haben die Kollegen Krankenhaushemden bekommen, die am Rücken zugebunden werden, „Engelhemdchen“. Die Ärmel reichen bis zum Ellbogen und haben einen weiten Bund – „Wenn du jemanden pflegst, der sich eingekotet hat, hängst du mit dem Ärmel in der Scheiße“, erklärt Mia. Die Leitung bestellt Plastiküberzieher für die Arme nach, so funktioniert es halbwegs.
Die improvisierten Masken schützen die Bewohner, nicht die Mitarbeiter, die sie tragen. „Die Kollegen haben in den Teamsitzungen gefragt: Wir schützen die Bewohner, aber was ist denn mit unserer Gesundheit?“
Normalerweise können die Bewohner die Einrichtung selbstständig verlassen, im Moment bleiben die Türen geschlossen. Bewohner, die Kontakt zu Unbekannten hatten, müssen für zwei Wochen auf die Quarantänestation. Um so eine Station zu bilden, haben manche Einrichtungen die Bewohner zu viert in ein Zimmer verlegt. In Mias Einrichtung war es einfacher: Hier stand eine Station leer – wegen Personalmangels.
Manche der Bewohner sind Alkoholiker, sonst kaufen sie Schnaps bei Lidl. Die Einrichtung hat entschieden, dass an solche Bewohner Wodka ausgegeben wird – sonst würden die Hygienemaßnahmen diese Bewohner zu kaltem Entzug zwingen.
Abstand organisieren, Essen auf die Zimmer bringen, Masken nähen – gleichzeitig setzen die Schutzmaßnahmen die Bewohner unter Stress. „Die bräuchten jetzt mehr Zuwendung, das können wir aber nicht gewährleisten.“ Mia erzählt, wie eine demente Bewohnerin darunter leidet, dass sie die Gesichter der Pflegekräfte nicht mehr sieht – sie weint und weigert sich, sich versorgen zu lassen. Eine andere hat nicht gegessen und getrunken, weil ihre Tochter sie nicht mehr besuchen kam. Die Kollegen organisierten, dass die Tochter trotz Besuchsverbotes in Schutzkleidung und mit Abstand ihre Mutter sehen konnte. Manche Wohnheime lassen wieder Besuche zu. Die Angehörigen sagen: Ich kann überall einkaufen gehen, wieso kann ich meine Mutter nicht besuchen?
Material ist knapp, die Kollegen müssen improvisieren und nachbessern. Die Bewohner leiden unter den Hygienemaßnahmen, die Mitarbeiter müssen mehr Aufgaben erledigen. Dabei ist dieses Heim wegen seiner psychiatrischen Ausrichtung besser mit Personal ausgestattet als andere Pflegeheime. „Es gibt keinen Alltag mehr“, sagt Mia, „du kommst zur Arbeit und fragst dich: Was passiert heute? Was für eine Anordnung kommt?“ Nun steigt durch die von Landes- und Bundesregierung beschlossenen Lockerungen die Gefahr, dass das Virus in die Einrichtung getragen wird. Mias Kollegen macht das wütend – was sollen sie machen, wenn Covid-19 bei ihnen ausbricht?