Ein Hoch auf den Amateurfilm! Die mehrfach ausgezeichnete Polin Jolanta Dylewska ist zwar alles andere als eine Amateurin, aber als Kamerafrau und Regisseurin hat sie sich den Sinn für den dokumentarischen Wert solcher oft ungelenk und ohne Anspruch gedrehter Aufnahmen bewahrt. Bei Recherchen zu einem anderen Projekt stieß sie in der Gedenkstätte Yad Vashem und danach in anderen Archiven auf zwanzig Streifen 16-mm-Film, in jüdischen Stetln in Polen um 1930 gedreht in wackligem, grobkörnigem Schwarzweiß, mit einfachen Kodak-Handkameras, die in die USA emigrierte Juden bei Besuchen – reicher Onkel – in der alten Heimat an Dorfbewohner verteilt hatten. Daraus montierte sie nun ihren Dokumentarfilm „Po-lin – Spuren der Erinnerung“. Der Titel, hebräisch für „Wir bleiben hier“, spielt auf den Fluchtweg verfolgter Juden aus Frankreich und Spanien gen Osten im Mittelalter an.
Das Wissen um die Entstehungszeit dieser Aufnahmen und die darauf folgende Nazi-Besetzung Polens erzeugt beim Betrachter ein emotionales Spannungsfeld aus Gedanken und Wahrnehmung. Die Bilder vom Alltag, von Familienfeiern, von spielenden Kindern, von Arbeit und Freizeit atmen eine unbeschwerte Naivität, die Gefilmten schauen ohne Argwohn in die Kamera, weil ja einer der Ihren sie führt, und man könnte sich ganz in der Idylle verlieren, erinnerte nicht die Kommentarstimme knapp und ohne Pathos: „Diese Kinder haben nur noch zehn Jahre zu leben.“
Jolanta Dylewska hat an diesem bereits 2008 fertiggestellten Film, ihrem „Herzensprojekt“, fast ein Jahrzehnt gearbeitet und in einigen der damaligen „Drehorte“ auch noch Zeitzeugen gefunden. Doch deren Aussagen wirken blass gegen die sprühende Lebendigkeit der alten Aufnahmen, und auch der sparsame Kommentar – in der deutschen Fassung gesprochen von Hanna Schygulla – lässt der Authentizität des Amateurmaterials genügend Raum zur vollen Entfaltung. Über den Reiz des Nostalgischen hinaus, den solche Ausgrabungen oft nutzen, lässt ihre Regie immer auch ihren Schmerz spüren, den Schmerz aus dem Verlust einer Kultur des Zusammenlebens, über der sich schon die Wolken des kommenden Naziterrors zusammenbrauen. Gut, dass „Po-lin“ nach missglücktem Kinostart nun wenigstens auf DVD zu haben ist.
Von ganz anderer Art ist der kürzlich im Kino gestartete Film „L‘Chaim – Auf das Leben“ von Elkan Spiller. Der 52-jährige Journalist, der selbst Kind von Holocaust-Überlebenden ist und heute in Amsterdam lebt, hatte 2009 einen Überraschungserfolg auf Festivals gelandet mit seinem Kurzfilm-Debüt „Mama, L‘Chaim“ über seinen Vetter Chaim Lubelski. Diesen Film hat er nun in eine Langfassung gebracht und – da kein TV-Sender Interesse zeigte – mittels „crowd funding“ finanziert. Diese Entstehungsgeschichte hat in der Dramaturgie deutliche Spuren hinterlassen, die auch die ungeheure Vitalität und Präsenz dieses Chaim Lubelski nicht überdecken können.
Aber wie anders als chaotisch könnte man auch ein solches Leben beschreiben? Spiller folgt seinem Protagonisten mit Zeit- und Ortssprüngen quer durch Europa, lässt ihn mitten im Satz die Sprachen wechseln, die er in seinem bewegten Leben hat lernen müssen, und die sprunghafte Bildgestaltung (von fünf Kameraleuten!) schafft zusätzliche Irritationen. Nach Holland führt Chaim seine Drogensucht, in St. Tropez hat er einst beinahe Schachkarriere gemacht, hat mit Jeans Millionen gemacht und an der Börse wieder verzockt. Aber eigentliches Zentrum seines Unterwegsseins ist ein Seniorenheim im belgischen Antwerpen. Hierhin ist er gezogen zu seiner Mutter Nechuma, die den Holocaust überlebte, aber nun seine Hilfe braucht bis zu ihrem Tod. Das Trauma des KZ, das sie mitten im gemeinsamen Lachen in Tränen ausbrechen lässt, hat ihr Sohn in seinem unsteten Leben nicht vergessen, nur anders verarbeitet. Es hat in ihm eine Liebe, ja eine Zärtlichkeit geweckt, die man in dem stets quasselnden, bärtigen und ungepflegt wie ein Penner durch die Welt irrenden Chaim nie vermutet hätte.